»Es hat ihn«, sagte der Peter, mitten in der Stube stillstehend.
»Wen? Wen? General! Das tönt ziemlich kriegerisch«, sagte der Öhi.
»Den Schnee«, berichtete Peter.
»Oh! Oh! jetzt kann ich zur Großmutter hinauf!« frohlockte das Heidi, das die Ausdrucksweise des Peter gleich verstanden hatte. »Aber warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut herunterschlittern«, setzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem Heidi kam es vor, das sei nicht in der Ordnung, so draußen zu bleiben, wenn man doch gut in die Schule gehen könnte.
»Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu spät«, gab der Peter zurück.
»Das nennt man desertieren«, sagte der Öhi, »und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hörst du?«
Der Peter riß erschrocken an seiner Kappe herum, denn vor keinem
Menschen auf der Welt hatte er einen so großen Respekt wie vor dem
Almöhi.
»Und dazu ein Anführer, wie du einer bist, der muß sich doppelt schämen, so auszureißen«, fuhr der Öhi fort. »Was meinst, wenn einmal deine Geißen eine da und die andere dort hinausliefen und sie wollten dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut ist für sie, was würdest du dann machen?«
»Sie hauen«, entgegnete der Peter kundig.
»Und wenn einmal ein Bub so täte wie eine ungebärdige Geiß und er würde ein wenig durchgehauen, was würdest du dann sagen?«
»Geschieht ihm recht«, war die Antwort.
»So, jetzt weißt was, Geißenoberst: Wenn du noch einmal auf deinem Schlitten über die Schule hinausfährst zu einer Zeit, da du hinein solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür gehört.«
Jetzt verstand der Peter den Zusammenhang der Rede und daß er mit dem Buben gemeint sei, der fortlaufe wie eine ungebärdige Geiß. Er war ganz getroffen von dieser Ähnlichkeit und schaute ein wenig bänglich in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, wie er es in solchen Fällen für die Geißen gebrauchte.
Aber ermunternd sagte nun der Öhi: »Komm an den Tisch jetzt und halt mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim, dann findest du dein Nachtessen hier.«
Diese unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter höchst erfreulich. Sein Gesicht verzog sich nach allen Seiten vor Vergnügen. Er gehorchte unverzüglich und setzte sich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte schon genug und konnte gar nicht mehr schlucken vor Freude, daß es zur Großmutter gehen sollte. Es schob die große Kartoffel und den Käsebraten, die noch auf seinem Teller lagen, dem Peter zu, der von der anderen Seite vom Öhi den Teller voll bekommen hatte, so daß ein ganzer Wall vor ihm aufgerichtet stand, aber der Mut zum Angriff fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte sein Mäntelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm eingepackt, mit der Kapuze über dem Kopf, seine Reise machen. Es stellte sich nun neben den Peter hin, und sobald dieser sein letztes Stück eingeschoben hatte, sagte es: »Jetzt komm!« Dann machten sie sich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter sehr viel zu erzählen vom Schwänli und Bärli, daß sie beide am ersten Tage in dem neuen Stall gar nicht hatten fressen wollen und daß sie die Köpfe hatten hängen lassen den ganzen Tag und keinen Ton von sich gegeben hatten. Und es habe den Großvater gefragt, warum sie so tun. Dann habe er gesagt: Sie tun so wie es in Frankfurt, denn sie seien noch nie von der Alm heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi setzte hinzu: »Du solltest nur einmal erfahren, wie das ist, Peter.«
Die beiden waren so fast oben angekommen, ohne daß der Peter ein einziges Wort gesagt hätte, und es war auch, als ob ihn ein tiefer Gedanke beschäftigte, daß er nicht einmal recht zuhören konnte wie sonst. Als sie nun bei der Hütte angekommen waren, stand der Peter still und sagte ein wenig störrisch: »Dann will ich noch lieber in die Schule gehen, als beim Öhi holen, was er gesagt hat.«
Das Heidi war derselben Meinung und bestärkte den Peter ganz eifrig in seinem Vorsatz. Drinnen in der Stube saß die Mutter allein beim Flickwerk. Sie sagte, die Großmutter müsse die Tage im Bett bleiben, es sei zu kalt für sie, und dann sei ihr auch sonst nicht recht. Das war dem Heidi etwas Neues; sonst saß die Großmutter immer an ihrem Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem schmalen Bett mit der dünnen Decke.
»Gott Lob und Dank!« sagte die Großmutter gleich, als sie das Heidi hereinspringen hörte. Sie hatte schon den ganzen Herbst durch eine geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte, besonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen sei und immer mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die Großmutter meinte nicht anders, als der Herr sei gekommen, das Heidi wieder mit fortzunehmen. Wenn er auch nachher schon allein abreiste, so stieg die Angst doch immer wieder in ihr auf, es könnte irgendein Abgesandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zurückholen. Das Heidi sprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte sorglich: »Bist du stark krank, Großmutter?«
»Nein, nein, Kind«, beruhigte die Alte, indem sie das Heidi liebevoll streichelte, »der Frost ist mir nur ein wenig in die Glieder gefahren.«
»Wirst du dann auf der Stelle gesund, wenn es wieder warm ist?« fragte eindringlich das Heidi weiter.
»Ja, ja, will's Gott, noch vorher, daß ich wieder an mein Spinnrad kann. Ich meinte schon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's dann schon wieder gehen«, sagte die Großmutter in zuversichtlicher Weise, denn sie hatte schon gemerkt, daß das Kind erschrocken war.
Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es sehr angst gewesen war, denn krank im Bett hatte es die Großmutter noch nie getroffen. Es betrachtete sie jetzt ein wenig verwundert, dann sagte es:
»In Frankfurt legen sie einen Schal an zum Spazierengehen. Hast du etwa gemeint, man müsse ihn anlegen, wenn man ins Bett geht, Großmutter?«
»Weißt du, Heidi«, entgegnete sie, »ich nehme den Schal so um im Bett, daß ich nicht friere. Ich bin so froh darüber, die Decke ist ein wenig dünn.«
»Aber Großmutter«, fing das Heidi wieder an, »bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so muß ein Bett nicht sein.«
»Ich weiß schon, Kind, ich spüre es auch wohl«, und die Großmutter suchte auf dem Kissen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopfe lag, einen besseren Platz zu gewinnen. »Siehst du, das Kissen war nie besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen, daß ich es ein wenig flachgelegen habe.«
»O hätt ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett mitnehmen könne«, sagte jetzt das Heidi. »Da hatte es drei große, dicke Kissen aufeinander, daß ich gar nicht schlafen konnte und immer weiter herunterrutschte, bis wo es flach war, und dann mußte ich wieder hinauf, weil man dort so schlafen muß. Könntest du so schlafen, Großmutter?«
»Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn man so hoch liegen kann mit dem Kopf«, sagte die Großmutter, ein wenig mühsam ihren Kopf aufrichtend, so wie um eine höhere Stelle zu finden. »Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben Gott für so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Schon das gute Brötchen, das ich immer bekomme, und das schöne, warme Tuch hier und daß du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch wieder etwas lesen heute?«
Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun suchte es ein schönes Lied nach dem andern, denn es kannte sie jetzt wohl, und es freute sich selbst, das alles wieder zu hören, es hatte ja seit vielen Tagen die Verse alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehört.
Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Gesichte, das erst so bekümmert ausgesehen hatte, lag jetzt