Aber das Heidi sagte ganz ohne Zweifel:
»Das ist zum Essen gemeint und gar nicht anders.«
Jetzt kam der Peter hereingestolpert: »Der Almöhi kommt hinter mir drein, das Heidi soll…«; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte ihn so überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte schon gemerkt, was kommen sollte, und gab schnell der Großmutter die Hand. Der Almöhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne schnell hereinzutreten und die Großmutter zu grüßen, und sie freute sich auch immer, wenn sie seinen Schritt hörte, denn er hatte jedesmal ein ermunterndes Wort für sie; aber heute war es spät geworden für das Heidi, das alle Morgen mit der Sonne draußen war. Der Großvater aber sagte: »Das Kind muß seinen Schlaf haben«, und dabei blieb er. So rief er durch die offene Tür der Großmutter nur eine gute Nacht zu und nahm das heranspringende Heidi bei der Hand, und unter dem flimmernden Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen Hütte zu.
Eine Vergeltung
Am anderen Morgen in der Frühe stieg der Herr Doktor vom Dörfli den Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geißen. Der freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geißbuben ein Gespräch anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht, kaum daß er als Antwort auf einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu hören bekam. Der Peter ließ sich nicht so leicht in ein Gespräch ein. So wanderte die ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhütte, wo schon erwartend das Heidi stand mit seinen beiden Geißen, alle drei munter und fröhlich wie der frühe Sonnenschein auf allen Höhen.
»Kommst mit?« fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung sprach er jeden Morgen diesen Gedanken aus.
»Freilich, natürlich, wenn der Herr Doktor mitkommt«, gab das Heidi zurück.
Der Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an.
Jetzt trat der Großvater hinzu, das Mittagsbrotsäckchen in der Hand.
Erst grüßte er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum
Peter hin und hing ihm das Säckchen um.
Es war schwerer als sonst, denn der Öhi hatte ein schönes Stück von dem rötlichen Fleische hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht gefalle es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern sein Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter lächelte fast von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, daß da drinnen etwas Ungewöhnliches versteckt sei.
Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von seinen Geißen umringt, jede wollte zunächst bei ihm sein, und eine schob die andere immer ein wenig seitwärts. So wurde es eine Zeitlang mitten in dem Rudel mit fortgeschoben. Aber jetzt stand es still und sagte ermahnend: »Nun müßt ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer wiederkommen und mich drängen und stoßen. Ich muß jetzt ein wenig mit dem Herrn Doktor gehen.« Dann klopfte es dem Schneehöppli, das sich immer am nächsten zu ihm hielt, zärtlich auf den Rücken und ermahnte es noch besonders, nun recht folgsam zu sein. Dann arbeitete es sich aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor her, der es gleich bei der Hand faßte und festhielt. Er mußte jetzt nicht mit Mühe nach einem Gespräch suchen wie vorher, denn das Heidi fing gleich an und hatte ihm so viel zu erzählen von den Geißen und ihren merkwürdigen Einfällen und von den Blumen oben und den Felsen und Vögeln, daß die Zeit unvermerkt dahinging und sie ganz unerwartet oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen öfters seitwärts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die diesem einen rechten Schrecken hätten beibringen können; er sah sie aber glücklicherweise nicht.
Oben angelangt, führte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die schönste Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte und umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es tat, wie es gewohnt war, und der Herr Doktor ließ sich gleich auch neben Heidi auf den sonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag über die Höhen und das weite grüne Tal. Von den unteren Alpen tönten überall die Herdenglocken herauf, so lieblich und wohltuend, als ob sie weit und breit den Frieden einläuteten. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenstrahlen hin und her, und der graue Falknis hob seine Felsentürme in alter Majestät hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leise und wonnig über die Alp und bewegte nur sachte die letzten blauen Glockenblümchen, die noch übriggeblieben waren von der großen Schar des Sommers und nun noch wohlig ihre Köpfchen im warmen Sonnenscheine wiegten. Obenhin flog der große Raubvogel in weiten Bogen umher, aber er krächzte heute nicht. Mit ausgebreiteten Flügeln schwamm er ruhig durch die Bläue und ließ sich's wohl sein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. Die lustig nickenden Blumen, der blaue Himmel, der fröhliche Sonnenschein, der vergnügte Vogel in den Lüften, alles war so schön, so schön! Heidis Augen funkelten vor Wonne. Nun schaute es nach seinem Freunde, ob er auch alles recht sehe, was so schön war. Der Herr Doktor hatte bis jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Wie er nun den freudeglänzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er:
»Ja, Heidi, es könnte schön sein hier, aber was meinst du? Wenn einer ein trauriges Herz hierher brächte, wie müßte er es wohl machen, daß er an all dem Schönen sich freuen könnte?«
»Oh, oh!« rief das Heidi ganz fröhlich aus. »Hier hat man gar nie ein trauriges Herz, nur in Frankfurt.«
Der Herr Doktor lächelte ein wenig, aber das ging schnell vorüber.
Dann sagte er wieder: »Und wenn einer käme und alles Traurige aus
Frankfurt mit hier heraufbrächte, Heidi; weißt du da auch noch etwas,
das ihm helfen könnte?«
»Man muß nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr weiß, was machen«, sagte das Heidi ganz zuversichtlich.
»Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind«, bemerkte der Herr Doktor. »Wenn es aber von ihm selbst kommt, was so ganz traurig und elend macht, was kann man da dem lieben Gott sagen?«
Das Heidi mußte nachdenken, was dann zu machen sei; es war aber ganz
zuversichtlich, daß man für alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben
Gott erhalten könne. Es suchte seine Antwort in seinen eigenen
Erlebnissen.
»Dann muß man warten«, sagte es nach einer Weile mit Sicherheit, »und nur immer denken: jetzt weiß der liebe Gott schon etwas Freudiges, das dann nachher aus dem anderen kommt, man muß nur noch ein wenig still sein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal alles so, daß man ganz gut sehen kann, der liebe Gott hatte die ganze Zeit nur etwas Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch nicht so sehen kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so denkt man, es bleibe dann immer so.«
»Das ist ein schöner Glaube, den mußt du festhalten, Heidi«, sagte der Herr Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die mächtigen Felsenberge hinüber und in das sonnenleuchtende grüne Tal hinab, dann sagte er wieder:
»Siehst du, Heidi, es könnte einer hier sitzen, der einen großen Schatten auf den Augen hätte, so daß er das Schöne gar nicht aufnehmen könnte, das ihn hier umgibt. Dann möchte doch wohl das Herz traurig werden hier, doppelt traurig, wo es so schön sein könnte. Kannst du das verstehen?«
Jetzt schoß dem Heidi etwas Schmerzliches in sein frohes Herz. Der große Schatten auf den Augen brachte ihm die Großmutter in Erinnerung, die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schöne hier oben sehen konnte. Das war ein