Ebenso genau kannte der Alte auch das Wesen und Treiben aller Tiere da oben, der großen und der kleinen, und er wußte dem Herrn Doktor ganz lustige Dinge von der Lebensweise dieser Bewohner der Felsenlöcher, der Erdhöhlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzählen.
Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf diesen Wanderungen, er wußte gar nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Öhi herzlich die Hand zum Abschiede schüttelte, mußte er von neuem sagen: »Guter Freund, von Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben.«
An vielen Tagen aber, und gewöhnlich an den allerschönsten, wünschte der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann saßen die beiden öfter miteinander auf dem schönen Vorsprunge der Alp, wo sie am ersten Tage gesessen hatten, und das Heidi mußte wieder seine Liederverse sagen und dem Herrn Doktor erzählen, was es nur wußte. Dann saß der Peter öfter hinter ihnen an seinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und faustete nie mehr.
So ging der schöne Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor eines Morgens und sah nicht so fröhlich aus, wie er sonst immer ausgesehen hatte. Er sagte, es sei sein letzter Tag, er müsse nach Frankfurt zurückkehren; das mache ihm große Mühe, denn er habe die Alp so liebgewonnen, als wäre sie seine Heimat. Dem Almöhi tat die Nachricht sehr leid, denn auch er hatte sich überaus gern mit dem Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte sich so daran gewöhnt, alle Tage seinen liebevollen Freund zu sehen, daß es gar nicht begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen sollte. Es schaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war wirklich so. Der Herr Doktor nahm Abschied vom Großvater und fragte dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht fassen, daß er ganz fortgehe.
Nach einer Welle stand der Herr Doktor still und sagte, nun sei das Heidi weit genug gekommen, es müsse zurückkehren. Er fuhr ein paarmal zärtlich mit seiner Hand über das krause Haar des Kindes hin und sagte: »Nun muß ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach Frankfurt nehmen und bei mir behalten könnte!«
Dem Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen, vielen Häuser und steinernen Straßen und auch Fräulein Rottenmeier und die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: »Ich wollte doch lieber, daß Sie wieder zu uns kämen.«
»Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi«, sagte freundlich der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die seinige hinein und schaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm niederblickten, füllten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Herr Doktor rasch und eilte den Berg hinunter.
Das Heidi blieb stehen und rührte sich nicht. Die liebevollen Augen und das Wasser, das es darinnen gesehen hatte, arbeiteten stark in seinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit aller Macht stürzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen unterbrochen, aus allen Kräften:
»Herr Doktor! Herr Doktor!«
Er kehrte um und stand still.
Jetzt hatte ihn das Kind erreicht. Die Tränen strömten ihm die Wangen herunter, während es herausschluchzte:
»Ich will gewiß auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei
Ihnen bleiben, so lang Sie wollen, ich muß es nur noch geschwind dem
Großvater sagen.«
Der Herr Doktor streichelte beruhigend das erregte Kind.
»Nein, mein liebes Heidi«, sagte er mit dem freundlichsten Tone, »nicht jetzt auf der Stelle; du mußt noch unter den Tannen bleiben, du könntest mir wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir kommen und bei mir bleiben? Kann ich denken, daß sich dann noch jemand um mich kümmern und mich liebhaben will?«
»Ja, ja, dann will ich sicher kommen, noch am gleichen Tag, und Sie sind mir auch fast so lieb wie der Großvater«, versicherte das Heidi noch unter fortwährendem Schluchzen.
Jetzt drückte ihm der Herr Doktor noch einmal die Hand, dann setzte er rasch seinen Weg fort. Das Heidi aber blieb auf derselben Stelle stehen und winkte fort und fort mit seiner Hand, solange es nur noch ein Pünktchen von dem forteilenden Herrn entdecken konnte. Als dieser zum letztenmal sich umwandte und nach dem winkenden Heidi und der sonnigen Alp zurückschaute, sagte er leise vor sich hin: »Dort oben ist's gut sein, da können Leib und Seele gesunden, und man wird wieder seines Lebens froh.«
Der Winter im Dörfli
Um die Almhütte lag der Schnee so hoch, daß es anzusehen war, als ständen die Fenster auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von der ganzen Hütte gar nichts zu sehen, auch die Haustür war völlig verschwunden. Wäre der Almöhi noch oben gewesen, so hätte er dasselbe tun müssen, was der Peter täglich ausführen mußte, weil es gewöhnlich über Nacht wieder geschneit hatte. Jeden Morgen mußte dieser jetzt aus dem Fenster der Stube hinausspringen, und war es nicht sehr kalt, so daß über Nacht alles zusammengefroren war, so versank er dann so tief in dem weichen Schnee, daß er mit Händen und Füßen und mit dem Kopf auf alle Seiten stoßen und werfen und ausschlagen mußte, bis er sich wieder herausgearbeitet hatte. Dann bot ihm die Mutter den großen Besen aus dem Fenster, und mit diesem stieß und scharrte der Peter nun den Schnee vor sich weg, bis er zur Tür kam. Dort hatte er dann eine große Arbeit, denn da mußte aller Schnee abgegraben werden, sonst fiel entweder, wenn er noch weich war und die Tür aufging, die ganze große Masse in die Küche hinein, oder er fror zu, und nun war man ganz vermauert drinnen, denn durch diesen Eisfelsen konnte man nicht dringen, und durch das kleine Fenster konnte nur der Peter hinausschlüpfen. Für diesen brachte dann die Zeit des Gefrierens viele Bequemlichkeiten mit sich. Wenn er ins Dörfli hinunter mußte, öffnete er nur das Fenster, kroch durch und kam draußen zu ebener Erde auf dem festen Schneefelde an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenster nach, und der Peter hatte sich nur daraufzusetzen und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn die ganze Alm um und um war dann nur ein großer, ununterbrochener Schlittweg.
Der Öhi war nicht auf der Alm den Winter; er hatte Wort gehalten. Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall abgeschlossen und war mit dem Heidi und den Geißen nach dem Dörfli hinuntergezogen. Dort stand in der Nähe der Kirche und des Pfarrhauses ein weitläufiges Gemäuer, das war in alter Zeit ein großes Herrenhaus gewesen, was man noch an vielen Stellen sehen konnte, obschon jetzt das Gebäude überall ganz oder halb zerfallen war. Da hatte einmal ein tapferer Kriegsmann gewohnt; der war in spanische Dienste gegangen und hatte da viele tapfere Taten verrichtet und viele Reichtümer erbeutet. Dann war er heimgekommen nach dem Dörfli und hatte aus seiner Beute ein prächtiges Haus errichtet; darinnen wollte er nun wohnen. Aber es ging gar nicht lange, so konnte er es in dem stillen Dörfli nicht mehr aushalten vor Langweile, denn er hatte zu lange draußen in der lärmvollen Welt gelebt. Er zog wieder hinaus und kam gar niemals mehr zurück. Als man nach vielen, vielen Jahren sicher wußte, daß er tot war, übernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es war schon am Verfallen, und der neue Besitzer wollte es nicht mehr aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafür bezahlen mußten, und wenn ein Stück abfiel von dem Gebäude, so ließ man es liegen. Seit jener Zeit waren nun wieder viele Jahre darübergegangen. Schon als der Öhi mit seinem jungen Buben Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte es meistens