Dem du zuvor die Anmut eingeschrieben;
Du gabst die heitre Stirn, doch gabst du auch
Die Tränen – sie allein sind mir geblieben.
Man neidet sie mir nicht, und doch sind sie
Vielleicht das beste Teil; mein junges Wähnen
Und meine Blumen, Herr, gab ich zurück.
Es blieb mir nichts, als nur das Salz der Tränen.
Die Blumen sind dem Kind, der Frau das Salz;
O mach daraus der Unschuld klare Fluten!
Und hat das Salz die Seele rein geklärt,
So gib dem Herzen neue Andachtsgluten.
All mein Verwundern hab ich schon durchlebt,
Mein Abschied ist getan, mein Herz bereitet,
Den Früchten nachzugehn, die Tod mir stahl,
Und dreist in unbekannte Nacht geleitet.
O Heiland! sei den andern Müttern gut!
Erbarme dich, aus Liebe zu der Deinen.
O taufe ihre Kinder in der Flut
Von unsern bittren Tränen, und die meinen,
Die stumm und starr zu deinen Füßen liegen –
Erhebe sie und laß sie heimwärts fliegen!
Suchende Seele
Ich bin das Gebet, das die Breiten
Der Erde besitzlos durchflieht,
Bin die Taube, die hoch in den Weiten
Zur Stätte der Liebe zieht.
Ich durchflog und durchspähte vergebens
An beiden Flanken der Welt,
Die fruchtbaren Wege des Lebens,
Das Gottes Atem erhält.
Der Atem weht meines Sanges
Vielklagende Inbrunst an,
Daß er hell und begeisternden Klanges
Die Armen erheben kann.
Dann preise ich deine Wonnen,
Erinnerung, ewige du,
Und kreise von Sonne zu Sonnen,
Unendlicher Zukunft zu.
Ich suche, die Schwingen zu baden,
Die Wasser der Wildnis auf,
Denn ich weiß, zu andern Gestaden
Steigt endlich ein jeder hinauf,
Die Völker, die drunten auf Erden
Der Hunger verstört und zerbricht,
Wie gefallene Engel werden
Sie heimberufen ins Licht.
Nehmt mich mit; ich bin Mutter, ich habe
Eine einzige Bitte zu tun,
Um die köstlichen Früchte im Grabe,
Um die Kleinen, die drunten ruhn.
Du Herr über Weinen und Wähnen,
Du Schöpfer von Leben und Glück,
Ich gebe dir all meine Tränen,
Gib mir meine Kinder zurück!
Der entblätterte Kranz
Ich gehe und trage hinauf in des Vaters Garten,
Wo jede zertretene Blume lebendig loht,
Meinen entblätterten Kranz; ich will knieen und warten:
Mein Vater hat viele geheime Arznei für den Tod.
Ich gehe und sage – und sei’s nur mit schweigenden Tränen:
»Ich habe gelitten, sieh her!« Und da sieht er mich an:
Wie hohl auch die Wangen und bläulichen Schläfen gähnen,
Mein Vater schaut lange, und liebend erkennt er mich dann.
»Bist du es, verzweifelte Seele?« erhebt mich sein Fragen.
»So war deinen irrenden Füßen die Erde zu klein?
Blick auf, ich bin Gott! Wirf ab deinen Gram und dein Klagen,
Hier wartet dein Haus, hier wartet mein Herz – tritt ein!«
O Gnade! O Vater! O heilige Zufluchtsstätte!
Dein weinendes Kind – du hast es in Güte erhört!
Ach, wenn ich auf Erden die himmlische Hoffnung nicht hätte,
Daß du mich errettest, wie wär’ ich vergrämt und verstört.
Du verwirfst nicht die Blume, nur weil ihre Schönheit vergangen,
Diese irdische Schuld – der Himmel sieht sie nicht an;
War treulos dein Kind, es wird dennoch Verzeihung empfangen,
Wenngleich es alles verschenkt und gar nichts gewann.
Dritter Teil. Autobiographische Fragmente
Marceline Desbordes-Valmore hat wenig Autobiographisches hinterlassen (außer ihren Gedichten und Briefen, die ja nichts sind als ein einziger leidenschaftlicher Selbstverrat ihres Lebens und Gefühls). Nie hat sie, die Bescheidene, ihr Dasein, ihr Werk für wichtig genug befunden, um es dokumentarisch zu erörtern oder festzulegen. Die folgenden biographischen Selbstdarstellungen sind darum nur Fragmente, aus Briefen und Werken beinahe zufällig gewählt: ihr ganzes tragisches Leben zu schildern, hat die Dichterin nur in Versen den Mut gefunden.
An Sainte-Beuve
Ich bin in Douai zur Welt gekommen, der Heimatstadt meines Vaters, am 20. Juni 1786. Ich war sein jüngstes Kind und das einzige, das blond war. Man begrüßte mich mit Begeisterung, entzückt über mein helles Haar, das man an meiner Mutter so bewunderte. Sie war schön wie eine Heilige, man hoffte, ich würde ihr völlig gleichen; aber ich habe ihr nur wenig ähnlich gesehen, und wenn man mich lieb hatte, so war es um anderer Eigenschaften als der Schönheit willen.
Mein Vater war Wappenmaler für Equipagen und Chorstühle. Sein Haus lag neben dem Kirchhof der kleinen Pfarrgemeinde Notre-Dame in Douai. Ich hielt es für groß, dieses liebe Haus, das ich mit sieben Jahren verlassen hatte. Seitdem habe ich es wiedergesehen, es ist eines der ärmsten in der Stadt. Und dennoch liebe ich dieses Wahrzeichen einer schönen, vielbeweinten Zeit über alles in der Welt. Ich habe nur dort den Frieden und das Glück gekannt, aber auch ein großes, abgrundtiefes Leid, als mein Vater keine Wappen mehr zu malen hatte.
Ich war vier Jahre alt, als der große Umsturz in Frankreich erfolgte (die Revolution von 1789). Zwei Großonkel meines Vaters, die bei der Aufhebung des Edikts von Nantes nach Holland geflüchtet waren, boten meiner Familie ihr ungeheures Erbe an, sofern man uns Kinder zum protestantischen Glauben übertreten ließe. Diese beiden Onkel waren hundertjährige Greise. Sie lebten als Junggesellen in Amsterdam, wo sie einen Buchverlag gegründet hatten. Sie haben