Meine Mutter, voll Mut und Unbedacht, ließ sich von der Hoffnung hinreißen, ihrer Familie das Dasein zu erleichtern, indem sie sich zu einer in Amerika lebenden und reich gewordenen Verwandten aufmachte. Von den vier Kindern, die vor dieser Reise zitterten, nahm sie nur mich mit. Ich tat es gern; aber als ich das Opfer gebracht, hatte ich für immer meinen Frohsinn verloren. Ich verehrte meinen Vater, als wäre er der liebe Gott selber. Die Städte, die Straßen und Hafenplätze, wo er nicht zu finden war, flößten mir Entsetzen ein; ich hing mich an das Kleid meiner Mutter, als wäre dort mein einziger Schutz.
Als wir in Amerika, in Guadeloupe, ankamen, war die Cousine inzwischen verwitwet und durch die Neger von ihrer Besitzung vertrieben; die Kolonie stand in hellem Aufruhr, und das gelbe Fieber herrschte überall. Die Mutter konnte den Schlag nicht ertragen. Sie starb – mit einundvierzig Jahren! Ich selbst an ihrer Seite war dem Tode nahe. Man führte mich fort, fort von dieser durch den Tod fast entvölkerten Insel, und von Schiff zu Schiff wurde ich meinen nun völlig verarmten Verwandten in Frankreich wieder zugeführt.
Damals war das Theater für sie und für mich eine Art Hilfsquelle geworden. Man lehrte mich singen. – Ich versuchte, die Muntere zu spielen, aber ich war besser in schwermütigen und leidenschaftlichen Rollen. Das entspricht auch besser meinem Schicksal. Ich lebte oft allein, weil es mir so gefiel. Man berief mich ans Theater Feydeau. Alles deutete auf eine glänzende Zukunft; mit sechzehn Jahren war ich Sozietärin, ohne es verlangt oder erhofft zu haben. Aber mein bescheidener Anteil beschränkte sich damals auf achtzig Franken im Monat, und ich kämpfte mit einer unsäglichen Armut.
Ich mußte meine Zukunftsaussichten der momentanen Not opfern und kehrte, im Interesse meines Vaters, in die Provinz zurück.
Mit zwanzig Jahren mußte ich dem Gesang entsagen, weil ich Schmerzen dabei hatte und weinen mußte – aber mein kranker Kopf war stets voll Melodieen, und ein immer gleicher Rhythmus gab, mir unbewußt, meinen Gedanken Form.
Ich mußte sie niederschreiben, um den fiebernden Klängen zu entgehen, und man sagte mir, es sei eine Elegie.
Herr Alibert, der meine sehr angegriffene Gesundheit zu heilen suchte, riet mir, da kein anderes Mittel helfen wollte, damit fortzufahren. Das versuchte ich, ohne je etwas gelesen oder gelernt zu haben, so daß es mir qualvolle Mühe schuf, meine Gedanken in Worte zu kleiden. Dies ist gewiß der Grund der Unklarheiten, die man mir zum Vorwurf macht, die ich jedoch selbst nicht beheben konnte. Ich änderte, ohne bessern zu können, und ich hatte nie die Kraft, mich mit diesen Aufzeichnungen von Dingen, die ich vergessen wollte, lange zu beschäftigen, – ich hatte so viel anderes zu tragen! Ich bin, wie jedermann, zum Leiden auf der Welt – und man sollte eher richtig denken, als richtig sprechen lernen. Wenn ich gut sprechen höre, fühle ich mich hingerissen, ohne mehr dabei zu empfinden als eine köstliche Träumerei. Zur Selbsterkenntnis aber hilft es mir gar nichts.
Allererste Liebe
Ich stand an der Tür des Elternhauses; es war nicht mehr Tag und noch nicht Nacht. Ich erblickte ihn durch den zarten Schleier, der zur Abendstunde in den Straßen schwebt. Seine Schritte eilten, wie ein Engelshaupt blickte sein Kopf mit den blonden Locken nach unserm Hause. Er kam aus dem Friedhof hinter unserm alten Wall; er kam herbei. Wir sahen uns ernsthaft an, wir sprachen leise und wenig. Guten Abend, sagte er, und ich empfing aus seinen Händen, die er mir hinstreckte, eine Anzahl großer Blätter; er hatte sie von den Bäumen auf dem Wall geholt, um sie mir zu bringen. Ich nahm sie mit Freuden; ich betrachtete sie lange, und ich weiß nicht, welche Verwirrung meine Blicke schließlich zu Boden zog. Sie blieben auf seinen nackten Füßen haften, und der Gedanke, daß er sich an der Baumrinde verletzt hatte, machte mich traurig. Er erriet es, denn er sagte: »Es ist nichts!« Wieder blickten wir uns an, und plötzlich grüßte ihn mein Herz: ich sagte mit schwacher Stimme, die nicht beben sollte: »Leb wohl, Henry!« Er war zehn Jahre alt, ich sieben.
Großer Gott! Welch einen Reiz behalten doch solche kindliche Freundschaften! Sein Bild ist meinem Gedächtnis mit derselben Frische eingegraben, die jene grünen Blätter ausströmten, als Henry sie in meine Hände legte.
Was ist aus Henry geworden? Von welchen Augen mag er das eingefordert haben, was er in meinen erstaunten und vertrauenden Blicken sah? Ich erinnere mich nicht, ob er schön war. Seine Züge, sein Mund sind mir entschwunden; nur seine Augen sprechen noch zu mir. In ihnen spiegelte sich unbewußt seine Seele. Die kurzen Worte, die er mit leiser Stimme hinwarf, – mein Ohr kennt noch ihren Tonfall, und jetzt weiß ich, daß sie mich ergriffen. Damals war mir das nicht bewußt. Ich stand nur und wartete auf Henry, ohne mich von der Stelle zu rühren, ohne den Kopf von jener Richtung abzuwenden, aus der er auftauchen mußte… und er kam. Er kam immer, ohne mir je gesagt zu haben, daß ich ihn erwarten sollte. Das Glück segne ihn dafür!
Aus einer Autobiographie
Das gelbe Fieber, das bei Pointe-à-Pitre seine Verheerungen fortsetzte, fand nichts, was es mir noch nehmen könnte. Ich war allein und wollte mich auf einem Fahrzeug einschiffen, das, ehe es nach Frankreich segelte, zur Vervollständigung seiner Ladung in Basse-Terre vor Anker gehen sollte.
Es war Nacht, solch eine helle Nacht, die eine Gegend völlig verwandelt und aus einer Stadt eine ganz neue andere Stadt zu schaffen weiß. Der Anblick dieser hier war mir so unerträglich, daß ich, in dem Hause, welches mich nach dem Aufruhr und dem Tode meiner Mutter aufgenommen hatte, mich in einem dunklen kleinen Hinterzimmer verkroch. Ich wartete darauf, die alte Uhr an der Wand, die geräuschvoll die Sekunden tickte, die Stunde der Abreise schlagen zu hören. Da kam der Gouverneur und machte mir, zugleich im Namen seiner Frau, das Angebot, mich in seiner Familie aufzunehmen, damit ich zur Rückkehr nach Frankreich eine günstigere und ungefährlichere Gelegenheit abwarten könne.
Er benachrichtigte die Witwe, daß ich mich den Gefahren dieses Schiffes nicht aussetzen möge, das in der Tat recht gebrechlich und kaum mehr war, als ein großes, überdecktes Boot. Seine Ladung für Europa, bestand aus Stockfisch und Walfischtran, und an Proviant führte es nur einige Stücke Pökelfleisch und Schiffszwieback mit sich, den man mit dem Hammer zerschlagen mußte. Das Feuer im Kompaßhäuschen und in den Schloten war das einzige, was diese so lange Reise für uns erhellen sollte.
»Sie wird sterben«, sagte der Gouverneur zu der jungen Witwe, die bereits Tränen vergoß, – »ich sage Ihnen, Madame, sie wird sterben!«
Alle ihre Worte klangen durch die Bretterwand zu mir herüber, keins aber änderte meinen Entschluß, abzureisen. Man kam und holte mich; ich sollte selber Antwort geben. Ich weinte, aber nichts erschien mir so grauenhaft, als hier zurückbleiben zu müssen; so lehnte ich das Anerbieten ab. Ich glaube, ehe ich mich dazu entschlossen, hätte ich lieber dasselbe getan, was ein kleiner Negerjunge vom Hause versuchte, der mir bei der Abfahrt nachschwamm: ich wäre ins Meer gesprungen, im Glauben, in meinen Armen Kraft genug zu besitzen, um bis nach Frankreich zu schwimmen.
Das Entsetzen vertrieb mich von dieser bewegten Insel. Vor wenigen Tagen hatte mich ein Erdbeben, während ich vor dem Spiegel stand und meine Zöpfe flocht, aufs Bett niedergeworfen. Ich hatte Angst vor den Mauern, hatte Angst vor dem Rascheln des Laubes, dem Wehen der Luft. Die Vögel schienen mich zur Reise aufzurufen. Hier, inmitten eines ganzen Volkes, das nur den Tod oder die Trauer um Tote kannte, erschienen mir nur die Vögel lebendig, weil sie Schwingen besaßen. Der Gouverneur konnte keinen andern Dank von mir erlangen, als liebenswürdige Worte und einen Abschiedsgruß. Ich sehe noch immer sein bekümmertes Gesicht vor mir, als er ging, mich meinem Schicksal überlassend, das ihm verhängnisvoll zu sein schien. Es war das erstemal, daß ich selbst über