Aber das Schönste dieser Briefe: sie sind vollkommen wahr. Es gibt keine einzige Lüge in den vielleicht zweitausend Schreiben, es sei denn die allzu verzeihliche des Mitleids. Nackte Seele enthüllt sich, aber nicht in der bewußten Gebärde einer, die den spätern Spiegel der Öffentlichkeit vor sich weiß (und ihm, wie Rahel, wie Bettina, nicht ungern entgegentritt). Weder schamhaft sich verhaltend noch schamlos zudringlich sich eröffnend, spricht hier eine Frau zu vertrauten Menschen über alle Geheimnisse ihres Lebens und Gefühls. Dank so unbedingter Echtheit werden diese Briefe unentbehrliche Dokumente nicht allein ihrer Biographie: selten ist das Seelenhafte wirklicher Weiblichkeit überhaupt so transparent geworden wie durch die aufrichtige Selbstmitteilung dieser einen Geliebten, Frau und Mutter.
In der vorliegenden Auswahl sind zum überwiegenden Teile die Briefe fragmentarisch mitgeteilt, das alltäglich Familiäre und gleichgültig Private von ihnen abgelöst. Nur insofern sie das äußere und innere Leben der Dichterin im Rückschein auf Zeit und Umgebung sichtbar machen, sollten sie übermittelt sein, und ich hoffe, diese Auswahl genügt, um die in der Einleitung versuchte Skizze mit ihren eigenen Worten zu untermalen.
An den unbekannten Geliebten
Von den Briefen Marcelinens an »Olivier«, den unbekannten Geliebten, sind im ganzen nur zwei durch den Zufall der Autographenkataloge aufgefunden worden – kaum als Briefe eigentlich anzusprechen, vielmehr »Zettelgen«, wie Goethe die hitzig raschen Botschaften an und von Frau von Stein nannte. Die wesentlichen sind vernichtet (oder wenn tatsächlich Henri de Latouche der Verführer war, im Jahre 1871 bei der deutschen Invasion mit allen dessen Dokumenten und dem Nachlaß André Chéniers verbrannt). Die vorliegenden beiden bilden nebst den Gedichten das einzige, was wir verbürgt von jener entscheidenden Episode besitzen, unzulänglich, sie zu erhellen, und nur flackernde Blitze in dem geheimnisvollen Dunkel jener tragischen Verstrickung.
An Olivier
Jänner 1809 oder 1810.
Komm morgen nicht, Vielgeliebter, ich habe tausenderlei lästige Arbeit, Pflichtbesuche. Gestern erhielt ich den Besuch eines – reichlich gepuderten – Mannes von Geist, der sich, um Gnade zu erlangen, zuerst auf die Kniee niederließ. Ich habe gelacht und die Huldigung seiner Bonbons und seiner Almanachs entgegengenommen. Was sage ich, das kostbarste Buch der Welt, da sich der Name all dessen, was ich liebe, darin befindet! Diesen Namen, der über mein Schicksal entscheiden wird, habe ich geküßt… Adieu, mein Olivier.
Und meine drei Brüder, meine drei Freunde? Bringe sie mir doch bitte mit, daß kein Tag ohne diese Arbeit vergeht. Denke daran, daß Du Dich dabei mit meinem Glück befassest. Ich will es, dieses geliebte Holzbein, diesen armen zerlumpten Dichter und besonders diesen häßlichen, interessanten Barbier.
Wie gut Du daran getan hast, sie nach Spanien zu versetzen, ihnen ist niemals kalt. Komm, komm Du dort hin, kleiner Freund. Komm, uns in reinster Sonne zu wärmen. Indessen werde ich Dich Samstag am Kamin meiner Freundin sehen.
1809 oder 1810.
Besinne Dich Deines Versprechens, teurer Vielgeliebter; vergiß nicht, daß ich eine Seele einzig nur dazu besitze, um Dich zu lieben, Dir zu folgen und an all Deinen Handlungen teilzunehmen.
Bleiben wir niemals mehrere Tage, ohne einander zu sehen; zu sehr habe ich gelitten; morgen um vier Uhr erwarte ich Dich. Liebe mich, mein kleiner Freund, gib meinem Herzen Antwort, o ich flehe Dich an, lieb mich recht! Das ist, als ob ich Dir sagte: Schenk mir das Leben. Deine Liebe ist mehr noch, Olivier, mein Olivier, mein Olivier. Du weißt nicht, bis zu welchem Grade Du mich glücklich oder unglücklich machen kannst.
Briefe über Henri de Latouche
Sollte, wie die französische Forschung immer eindringlicher behauptet (ohne jedoch vollgültigen Beweis erbringen zu können), tatsächlich Henri de Latouche der Verführer Marcelinens und der Vater ihres unehelichen Kindes gewesen sein, derjenige, dem diese »Zettelgen« galten, so sind die folgenden Briefe psychologisch von besonderem Reiz. Denn sie sind (die beiden ersten) dreißig Jahre nach jener Episode an ihren Mann gerichtet, als Latouche der Tochter Marcelinens nachstellte, und atmen die äußerste Verachtung und Erbitterung gegen ihn.
Um so großartiger kontrastiert dagegen der Brief nach seinem Tode an Sainte-Beuve. Der in allen Privatverhältnissen unbändig neugierige Kritiker, dieser Voyeur in psychologicis hatte sofort nach Latouches Tod an Marceline einen Brief gerichtet, sie möchte ihm Latouches Charakter schildern (als ob er ihn selbst nicht genug gekannt hätte). Er hoffte, ihr bei diesem Anlaß einen verräterischen Aufschrei zu entreißen. Und tatsächlich ist dieser Brief eine erschütternde Fürbitte um Verzeihung für einen geworden, der sie selbst maßlos gekränkt und gequält: das gütige, großmütige Herz wirft sich schützend über den längst verhaßten Toten, um ihm für den Nachruf etwas Milde zu retten. Ob die darin erwähnte Kränkung durch Latouche jene erste war, die Verführung und das brüske Verlassen, ob die zweite gemeint ist, die Nachstellung gegen die Tochter – dies verhüllt sich in diesem Brief, der ganz nur die Güte des Verzeihens offenbart und eines der wichtigsten Dokumente ihrer Lebenstragödie bildet.
An ihren Gatten
6. Mai 1839.
Mit Herrn Latouche bin ich mehr denn je in Verlegenheit, was mir, wie ich glaube, eine Art Kälte gibt, die ich nicht überwinden kann, obwohl ich ihn sehr liebe. Aber zu den Befürchtungen, die mir schon sein Charakter einflößte, mengen sich nun auch die schrecklichen Geständnisse jener unglücklichen Dame, und mein Aufenthalt auf diesem Landsitz versetzt mich in große Unruhe. Ich suche einen Weg zu finden, wie ich weder die eine noch die andere Person beleidige. Er gibt uns Beweise von Anhänglichkeit, die mich zu Dank verpflichten, und wenn ich mich ihrer zu erwehren versuche, so sagt er, Du seiest es, der es ihm für die Zeit Deines Fernseins zur Pflicht gemacht hätte. Ich weiß jetzt, daß es meine Aufgabe ist, mich nicht zwischen zwei Herzen zu stellen, die sich einander nähern wollen, und daß ich um keinen Preis dorthin