Aus dem Verkaufsraum drang jetzt nur noch die freundliche Stimme Majas zu ihm hinein, die anderen hatten ihre Lautstärke bis zur Unhörbarkeit heruntergeschraubt. Dann läutete die Türglocke, und es war still. Wenige Sekunden später hörte er ein Klopfen am Türpfosten.
Er lachte leise. »Herein.«
Maja schob den Vorhang beiseite.
»Pffff … Denen haben Sie es ja gegeben.«
Er drehte sich zu ihr um. »Ich hasse nichts so sehr wie Vorurteile und Ungerechtigkeiten.«
»Na ja, so ganz unrecht haben die ja nicht.«
Er versteifte sich innerlich.
»Maja?« Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren drohend. »Ich erwarte von Ihnen absolute Neutralität. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.«
Die junge Frau schwieg, hielt seinem Blick stand. Er war sich sicher, dass sie ihn nun am liebsten angeschrien hätte. Wut, Enttäuschung, Verletzung, Rachegelüste … All das konnte er in ihren Augen lesen. Dann nickte sie stumm, drehte sich um, und der Vorhang fiel zwischen ihnen wieder zu.
Thomas wusste ja nur zu gut, dass Claudia für seine Angestellte das sprichwörtliche rote Tuch bedeutete. Maja musste bei Claudias Besuch in seiner Apotheke die besonderen Schwingungen zwischen ihm und der schönen Hexenfee gespürt haben und war auf sie eifersüchtig. Einerseits tat ihm das junge Mädchen leid, andererseits jedoch hätte er sich mit einer anderen Helferin wohler gefühlt. Zu dumm, dass er ihrem Onkel sein Wort gegeben hatte, ihr Arbeitsverhältnis weiterzuführen.
*
Über den Schwarzwaldhöhen spannte sich ein wolkenloser Himmel, und in der Luft lag der süße Duft des Sommers, der durch das geöffnete Fenster in die niedrige Küche wehte. Sie roch nach Wärme und intensiven Farben, den blauen Lupinen und den Dotterblumen auf der Wiese.
Obwohl Claudia die Sonne und das Leben liebte, wäre ihr an diesem Nachmittag strömender Regen und ein mit schwarzen Wolken verhangenes Ruhweiler Tal lieber gewesen.
Seit sie die Diagnose ihres Hustens erfahren hatte, stand ihr Weltbild auf dem Kopf. Sie, seit einigen Jahren eine strenge Gegnerin der Pharmaindustrie und ihrer Produkte, sollte jetzt selbst Kundin bei dieser werden. Einfach unglaublich. Mit welchen Argumenten konnte sie überhaupt noch ihre eigenen Naturheilmittel vertreten, wenn ihre Krankheit diesen die Grenzen der Wirksamkeit aufzeigte?
Die junge Frau seufzte und schaute gedankenverloren aus dem Fenster.
Umgeben von der Schönheit dieses Tales, die der Sonnenschein noch vergoldete, ahnte sie eine höhere Macht, die dies alles hier auf Erden lenkte. Auch ihr Schicksal. Das enttäuschende Erlebnis auf dem Bauernmarkt, Thomas Brandler, zu dem sie eine starke Anziehung spürte, der jedoch wegen ihrer unterschiedlichen Sichtweisen niemals zu ihr passen würde, ihre Krankheit … Waren dies alles Zeichen dafür, dass sie mit ihrer Geschäftsidee auf dem falschen Weg war? Sollte sie lieber in ihren gelernten Beruf zurückkehren, gesund werden und vielleicht die große Liebe anderswo suchen? Ein Dr. Brandler würde niemals eine Kräuterhexe an seiner Seite akzeptieren.
Was war denn das?
Claudia wich vom Fenster zurück.
Vor ihren Augen hob und senkte sich plötzlich ein rotes Herz, auf und ab, sodass sie zuerst gar nicht erkennen konnte, was auf dem Luftballon in schwarzen Lettern geschrieben stand.
»Die Salbe hat geholfen. Überzeugt!«, las sie schließlich.
Da tauchte von unten eine Hand auf, die die Schnur hielt, dann folgte ein verwuschelter Blondschopf, und dann sah sie in die so unverschämt blauen Augen von Dr. Thomas Brandler.
Sie musste lachen. Mit einem Mal war sie froh, dass die Sonne schien.
»Das ist ja eine Überraschung!«
»Dass deine Salbe wirkt?«, fragte Thomas mit spitzbübischem Lächeln.
»Nein, das wusste ich«, gab sie ebenfalls blinzelnd zurück. »Ich meine die Tatsache, dass du mir deine Meinung dazu auf diese nette und ungewöhnliche Art sagst.«
»Man tut, was man kann«, konterte er.
Wieder brachte er sie zum Lachen.
»Darf ich reinkommen oder störe ich?«
»Du störst nicht. Im Gegenteil, du rettest mich gerade davor, in Selbstzweifel zu verfallen.«
Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. »Das klingt nach Lebenskrise.«
»Ist es auch ein bisschen.«
Immer noch stand er vor ihrem Fenster, durch dessen geöffneten Flügel sie sich unterhielten.
»Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang machen?«, schlug Thomas vor. »Ich kenne hier einen Ort, da werden die Gedanken ganz frei.«
»Vorschlag angenommen«, erwiderte sie erfreut. »Ich komme raus.«
Naturmedizin, Homöopathie oder Antidepressiva … Am besten heilt bei einem Stimmungstief immer noch ein bisschen Kribbeln im Bauch, dachte sie vergnügt, während sie das Fenster schloss.
*
Strammen Schrittes schlugen Claudia und Thomas einen Weg ein, der sich auf halber Höhe an einem Hügel entlangschlängelte, von wo aus sie eine herrliche Aussicht auf Ruhweiler hatten. Rechts von ihnen lagen sattgrüne Wiesen, an deren Fuße in der Senke ein paar verstreute Schwarzwaldhöfe ruhten. Linkerhand wuchsen schwarze Fichten in den blitzblanken Himmel. Schon bald führte der Pfad die beiden bergauf in ein Waldgebiet. Claudia musste ein paar Mal stehen bleiben und husten. Ihr Begleiter legte ein ziemlich sportliches Tempo vor. Jetzt lächelte Thomas sie schuldbewusst an.
»Zu schnell?«
»Nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, erwiderte sie atemlos. »In ein paar Wochen werde ich dich überholen.«
Er schmunzelte wissend. »Dort hinten ist eine Lichtung. Da können wir eine Pause machen.«
Sie folgte ihm durch den grünlich schimmernden Tannengrund, in dessen Mitte sich ein kleiner kreisrunder Platz befand. Die Sonne warf goldene Fäden durch das Geäst aufs Moos hinunter. Geschlagene frisch geschälte Baumstämme auf dem Boden verströmten den würzigen Duft von Harz. Lupinen, Fingerhut, Heidelbeerbüsche und Himbeeren … Die Lichtung mutete an wie eine Naturbühne.
Claudia blieb stehen und verweilte ein paar Atemzüge lang schweigend in diesem Anblick. Sie fühlte sich, als wäre sie mit Thomas allein auf der Welt. Nichts trennte sie. Sie empfand diese Augenblicke als kostbar, denn ihr war bewusst, dass sie sie in sich aufbewahren musste, damit sie ihre Seele in dunklen Zeiten erhellten.
Sie suchte Thomas’ Blick.
»Schön, gelt?«, fragte er mit unterdrückter Stimme, die ganz weich klang.
Sie konnte nur nicken. Voller Ergriffenheit folgte sie ihm über das Moos, das ihre Schritte schluckte, und setzte sich in die Nähe der Blumen, von deren Nektar Hummeln und Bienen tranken.
»Jetzt erzähl mal«, forderte er sie ernst auf. »Falls du magst«, fügte er rasch hinzu.
»Sonst wäre ich nicht mitgegangen«, erwiderte sie.
Es schien ihr ganz normal, über die Gedanken zu sprechen, die sie sich nach dem Besuch bei Dr. Brunner gemacht hatte. Vielleicht deshalb, weil Thomas auch etwas damit zu tun hatte? Brachte die Diagnose, oder vielmehr deren Behandlungsmethode, sie diesem sie so faszinierenden Mann näher? Sie musste in ihren Ansichten zurückrudern, mehr in seine Richtung. Ob sie wollte oder nicht.
»Kurzum, ich bin inzwischen unsicher, ob ich meine Produkte überhaupt noch glaubhaft verkaufen kann«, schloss sie ihre Geschichte ab.
Thomas hatte ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen. Er saß neben ihr, mit gesenktem Kopf, kaute auf einem Grashalm. Jetzt sah er sie an. Ernst, sehr ernst.
»Danke, dass du mir deine Gedanken