Claudia spürte, wie das Blut in ihr zu kochen begann.
Schlimmer hätte er sie nicht angreifen können. Wie kam er dazu, sie belehren zu wollen? Sie hatte eine Ausbildung zur Apothekenhelferin gemacht, hatte einige Jahre in einer großen Apotheke gearbeitet und auch die Nebenwirkungen der von ihm so hoch gelobten Heilprodukte gesehen. Er konnte ihr nichts vormachen.
Mit letzter Kraft bemühte sie sich um eine halbwegs freundlich klingende Antwort.
»Es gibt viele Studien, die die effektive Wirkung von Naturheilmitteln bestätigen.«
»Es mag solche Studien geben, sie sind aber nicht wissenschaftlich fundiert«, widersprach er ruhig und etwas freundlicher, als sie geklungen hatte. »Sie beweisen nur, dass die untersuchten Heilpflanzen keine negative Wirkungen zeigen.«
Kein Zweifel, dieser Typ fühlte sich eindeutig in der Rolle des Überlegenen. Sollte sie ihm erzählen, welchen Beruf sie gehabt hatte? Nein, sie wollte sich nicht bei ihm einschmeicheln. Entweder akzeptierte er sie so, wie sie war, oder gar nicht. Und von Letzterem ging sie aus. Sie konnte seine festgefahrene Haltung ja auch nicht teilen. Das war es dann wohl. Anziehung hin oder her, aber ihre Welten waren unvereinbar.
Noch während ihr diese Gedanken durch den Kopf jagten, tauchte die braunhaarige junge Frau neben ihm auf.
»Hier bin ich«, sagte sie ganz selbstverständlich. »Der Schuldirektor möchte Sie gern kennenlernen. Er plant im Sachunterricht eine Aktion, bei der Ihre Apotheke eine Rolle spielen könnte.«
Sie sah, wie er zögerte, bemerkte auch den missgünstigen Blick der Braunhaarigen, der auf ihr ruhte. Dann sagte Thomas zu ihr: »Also dann, alles Gute. Bis bald mal.«
Er drehte sich um und tauchte in der Menge unter.
Seine Ehefrau ist sie also nicht, überlegte sie. Doch diese Frage hatte sie jetzt eigentlich ja gar nicht mehr zu interessieren.
*
Nachdem Thomas Brandler mit seiner Apothekenhelferin abgezogen war, dieses hübsche Ding hatte sich bei ihm untergehakt, begann sie fast fluchtartig, alle Sachen zusammenzupacken. Keine Minute länger wollte sie sich den misstrauischen wie auch mitleidigen Blicken der Leute aussetzen. Und Dr. Brandler wollte sie überhaupt nicht mehr wiedersehen.
Sie verstaute alles in ihrem alten Kombi und fuhr nach Hause. Dort kochte sie zuerst einmal Tee und setzte sich dann mit dem Becher nach draußen.
Über dem Wiesental lag eine geruhsame Stille. Samstagnachmittagsstille. Nur die Bienen summten und brummten über den Blumenrabatten, die sie neu angelegt hatten. Zitronenfalter flatterten durch die Luft, und in den Bäumen sangen die Vögel. Auf dem Rückweg vom Bauernmarkt hatte sie mehrmals husten müssen. Wie auch jetzt wieder. Inzwischen tat ihr sogar die Brust weh.
Vielleicht sollte ich mich doch einmal untersuchen lassen, ging es ihr durch den Sinn. Dr. Brunner war der erste Arzt, dem sie vertraute. Und von ihm wusste sie auch, dass er nicht sofort zu den von ihr so verhassten chemischen Keulen griff.
Montagmorgen, nahm sie sich vor. Ende der Woche wollte sie ihr Geschäft eröffnen. Oder lieber nicht? War dies nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Die Stimmung auf dem Bauernmarkt hatte es doch gezeigt.
Claudia stand auf, atmete die klare Luft tief ein.
Wie schön es hier war. Wie gern würde sie sich hier für immer niederlassen, aber ohne monatlichen Verdienst war dies unmöglich. Wo sollte sie hier eine Stelle bekommen? Als Apothekenhelferin vielleicht? Sehr witzig.
Sie seufzte.
Wenn sie hier weiterhin auf und ab gehen würde, ohne jedes Ziel vor Augen, würde sie in ein paar Minuten schwermütig werden. Jetzt war Bewegung angesagt. Nicht nur die der Beine, sondern auch in ihrem Kopf.
*
Ein paar Minuten später wanderte Claudia los.
Ein Wiesenweg führte zur Steinache, die hier munter plätschernd in Richtung Ruhweiler floss. Wieder einmal fiel der jungen Frau auf, dass die Landschaft etwas Bodenständiges vermittelte. Hier gab es Nestwärme inmitten bunter Wiesen, ländliche Ruhe, untermalt vom Gebimmel der Kuhglocken. Große gepflegte Höfe zeugten in ihrer behäbigen Schönheit und Blumenpracht von der Liebe ihrer Bewohner zu ihrer Heimat.
Sie blieb stehen und lauschte eine Weile dem Gesumm und Gebrumm der Bienen, während sie mit versonnenem Blick die große Schafherde in der Ferne betrachtete. Idylle pur.
Dann ging sie am Ufer weiter bergan zum Wald hinauf, an dessen Rand aufgeschichtete geschlagene Stämme den Duft von Harz verströmten. Sie tauchte in das kühle dunkle Grün ein. Die Nadeln der Kiefern und Tannen ließen ihren Schritt federn. Ganz leicht und frei fühlte sie sich jetzt. Ehrfürchtig blickte sie hoch zu den Wipfeln, in denen die Sonne das ewige Spiel von Licht und Schatten spielte, ohne dass je einer den anderen besiegen konnte. Und wieder musste sie an Thomas Brandler denken.
Licht und Schatten, genauso gegensätzlich waren auch sie. Und trotzdem gab es ohne das Licht keinen Schatten. Beides hatte seine Berechtigung. Wie auch die Naturmedizin und die chemische. Natürlich wusste auch sie, dass ein krebskranker Mensch nicht nur mithilfe von heißen Tees zu heilen war. Aber selbst bei solchen Kranken konnten Naturheilmittel unterstützend wirken. Sie war ja nicht fanatisch, aber dieser attraktive Apotheker dagegen schien genau das zu sein.
Plötzlich hörte sie in ihre Gedanken hinein Geräusche. Sie blieb stehen, versuchte diese zu orten. Keine zwei Sekunden später brach eine Gestalt durchs Unterholz. Das nackte muskulöse Bein war blutüberströmt. Der Mann war groß und kräftig, er atmete schwer.
Der Mann war Thomas Brandler.
*
Claudia und Thomas standen sich sprachlos gegenüber, beide gleichermaßen überrascht.
Das unerwartete Zusammentreffen überwältigte Claudia und verursachte eine so große Schwäche in ihr, dass sie sich am liebsten an den nächsten Baumstamm gelehnt hätte.
»Hallo.«
Thomas’ warm klingende, tiefe Stimme verfehlte auch jetzt nicht die Wirkung auf sie.
Sie sah zu ihm hoch und straffte sich. Sie standen sich gegenüber. Wieder spürte sie ihren rasenden Herzschlag, die Trockenheit im Mund, sogar ihre Knie begannen zu zittern. Die magische Anziehungskraft wirkte ungebrochen. Sie spürte, wie sie die Fassung zu verlieren drohte.
Was mochte er nun über sie denken, nachdem er ihre Niederlage auf dem Bauernmarkt mitbekommen hatte? Wahrscheinlich lachte er innerlich über sie.
Sie bemerkte, dass er sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlegte und dabei schmerzvoll das Gesicht verzog. Dadurch kam wieder Leben in sie.
»Bist du verletzt?«, fragte sie.
»Ich habe mich hingelegt und mir dabei das Schienbein aufgeschlagen.« Er lachte kurz auf. »Hast du vielleicht ein Taschentuch oder so was dabei?«
Nein, hatte sie nicht.
Sie beugte sich hinunter und sah sich die Verletzung an. Die Wunde war tief, jedoch nicht so klaffend, dass sie genäht werden musste. Sie blutete nur sehr stark, stärker als sie durfte, was bei ihr den Verdacht nahe legte, dass der Apotheker zu wenig Blutgerinnungsstoffe besaß.
»Bist du Bluter?«, kam ihr die Frage ganz von selbst über die Lippen.
Zuerst sah er sie erstaunt an, dann nickte er.
»Setz dich mal.« Sie zeigte auf einen Baumstumpf.
Sie wusste, dass bei Menschen mit Hämophilie Naturheilmittel