Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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Herren nur einen geringen Teil der Lasten abnehmen konnten, hatte man doch der armen Gemeinde Pastor Nokhudians aus Brüderlichkeit hundertfünfzig der stärksten Tiere mit Sattel und Kraxen zur Verfügung gestellt. Gabriel Bagradian, der sich auf einer Böschung des Karrenweges, der zum Nordsattel emporführt, niedergelassen hatte, ließ die keuchenden, schwergebeugten Gruppen an sich vorüberziehen. Er nahm, von kurzen Schlummeranfällen manchmal hin und her geworfen, die Parade des Elends ab.

      Ein festgeballter, unglaublich metallischer Mond stieg hinter den blaßgrauen Felsschroffen des Amanus im Nordosten auf. Er kam deutlich näher, er klebte nicht flächig am Himmelsgewölbe. Hinter ihm wurde die schwarze Raumferne immer deutlicher. Auch die Erde war für Gabriel nicht mehr der gewohnte starre Aufenthaltsort, sondern das kleine Fahrzeug im Kosmos, das sie wirklich ist. Dieser klare Kosmos dehnte sich nicht nur hinter dem plastischen Mond, sondern drang bis ins Tal herab und füllte kühl die Poren des Ruhenden. Schon hatte der Mond die Mitte des Himmels überschritten und immer noch zogen die keuchenden Sippen an Gabriel vorbei. Es war stets dasselbe Bild: an der Spitze, finster den Stock vor sich einstoßend, der Familienvater mit seinem Pack. Ein barscher Zuruf, eine klagende Antwort! Die Frauen schwankten unter Lasten, die ihre Rücken fast bis zur Erde beugten. Dabei mußten sie noch immer darauf achten, daß sich die Ziegen nicht verliefen. Und doch dann und wann unter Sack und Pack ein muntrer Augenblitz, ein flinkes Mädchengelächter. Gabriel schrak aus einem kleinen Schlummer auf. Ein großes Kinderweinen war unten im Orte aufgegangen. Hunderte von Kindern greinten, als hätten sie in derselben Sekunde allesamt den Auszug ihrer Eltern entdeckt. Dazwischen fuhr schrilles Keifen und knurrender Unmut alter Weiber. Doch es waren nicht verlassene Kinder, sondern die Katzen von Yoghonoluk, Azir und Bitias. Die Katze hat sieben Seelen, und jede Seele besitzt eine eigene Stimme. Deshalb muß man Katzen siebenmal töten, ehe sie sterben. (Sato hatte diese Weisheit längst von Nunik empfangen.) Die Wahrheit jedoch war, daß die Katzen von Yoghonoluk, Azir und Bitias der Auszug ihrer Hausherren gänzlich kalt ließ, denn nur dem Hause dienen sie mit ihren sieben Seelen und nicht dem Menschen. Vielleicht war ihr Weinen ein Freudenchor nicht mehr behinderter Liebesfreiheit. – Die Hunde aber litten wirklich. Selbst der wilde Hund der syrischen Dörfer kommt vom Menschen nicht los. Er kann nicht zurückfinden zu sich selbst, zu Fuchs, Schakal und Wolf. Mag er auch seit unzähligen Generationen schon verwildert sein, er ist und bleibt ein entlassener Angestellter der Zivilisation. Sehnsüchtig umlauert er die menschlichen Behausungen, nicht nur um einen Knochen bettelnd, sondern um Wiederaufnahme in die Sklaverei und Einstellung in den vergessenen Dienst. Die wilden Hunde der Dörfer wußten alles. Sie hatten das Lager auf dem Damlajik schon entdeckt. Und sie wußten auch, daß ihnen dieses Lager, anders als die Dorfstraße, streng verschlossen war. Wirr und verzweifelt besprangen sie den Berg des Verbotes, knackten durchs Unterholz, raschelten im Myrten- und Arbutusgebüsch wie Schlangen. Keinem von ihnen kam der befreiende Einfall, in die moslemische Nachbarschaft auszuwandern und in Chalikhan oder Aïn Jerab seinem Knochenerwerb nachzugehen. Sie blieben an dieses ungetreue Volk gebunden, das die gemeinsame Wohnstatt verlassen hatte. Die Seele verging ihnen vor wildem Leid, und doch wagte keiner sein einsilbiges Bellen hervorzustoßen, dem die kultivierte Schmiegsamkeit der Haushundsprache mit ihrem reichen Wortschatz schon längst verlorengegangen war. Die ganze Angst ihrer Seele stieg in die Augen. Gabriel sah überall im Dunkel das grüne Feuer dieser überschwenglichen Hundeaugen, die den Bannkreis nicht zu überschreiten wagten.

      Der Mond war im Rücken des Musa Dagh verschwunden. Ein blasser Wind entkeimte dem Kosmos. Jetzt sind alle schon oben, dachte Gabriel, an dem vor mehr als einer Stunde die letzte Sippe vorübergezogen war. Und doch, er konnte sich aus Müdigkeit oder aus Einsamkeitsbedürfnis von seinem nächtlichen Beobachtungsposten noch immer nicht losreißen. Er wußte ja nicht, ob er in seinem ganzen Leben noch einmal mit sich selbst werde allein sein dürfen. Und hatte er nicht dieses Alleinsein stets als das größte Geschenk des Himmels geachtet? Noch eine halbe Stunde solchen außerweltlichen Friedens gestand er sich zu, dann wollte er schnell zur Nordstellung hinauf, um die Grabenarbeiten zu überwachen und vorwärtszutreiben. Er lehnte sich gegen die Eiche in seinem Rücken und rauchte. Da stieg aus der Finsternis noch ein äußerst verspäteter Nachzügler empor. Gabriel hörte klappernden Huftritt und wegabrauschende Steine. Dann sah er eine Laterne, einen Mann und einen hochbepackten Esel. Das Tier brach bei jedem Schritt unter der Last beinahe zusammen. Doch auch der Mann schleppte einen gewaltigen Sack, den er alle zwei Minuten wildkeuchend auf den Boden setzen mußte. Gabriel erkannte den Apotheker erst, als der Sack zu seinen Füßen niederplumpste. Krikors Gesicht war völlig entstellt, die gleichmütige Mandarinenmaske zu einer barbarischen Götterfratze verzerrt. Der Schweiß rann ihm über die polierten Wangen in den langen Bocksbart, der atemlos auf und nieder wippte. Er schien große Schmerzen zu leiden und krümmte die Schultern vor. Gabriel Bagradian gab sich zu erkennen:

      »Sie hätten den Drogensack meinen Leuten mitgeben können, statt Ihre ganze Apotheke selbst zu schleppen.«

      Krikor rang noch immer nach Atem. Dennoch vermochte er in seine Worte eine gewisse Verächtlichkeit zu legen:

      »Dies hier hat mit der Apotheke nichts zu tun. Die habe ich schon vor vielen Stunden hinaufgeschickt.«

      Gabriel Bagradian hatte längst bemerkt, daß sowohl der Esel als auch der Apotheker ausschließlich mit Büchern bepackt waren. Aus einem dunklen Grund erregte diese Tatsache seinen Ärger und zugleich den Wunsch, Krikors ein wenig zu spotten:

      »Verzeihen Sie meinen Irrtum, Apotheker! Ist das hier Ihr ganzer Proviant?«

      Das Gesicht Krikors hatte sich beruhigt. Seine Augen ruhten wieder gleichmütig auf Gabriel:

      »Ja, das ist mein Proviant, Bagradian, leider aber nicht mein ganzer ...«

      Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Er ließ sich neben Gabriel nieder und begann mit einem ungeheuren Taschentuch sich den Schweiß abzutrocknen. Die Dämmerung zwinkerte auf. Der Esel stand mit gesenktem Kopf und trübsinnigen X-Beinen auf dem Saumweg. Ein paar Minuten vergingen. Gabriel empfand Unwillen über seine grausame Spottregung von vorhin. Doch Krikors Stimme hatte ihren hohen Überlegenheitston wiedergefunden:

      »Gabriel Bagradian! Ihnen sind als Pariser Gelehrtem ganz andre Hilfsmittel zur Verfügung gestanden als mir, dem Apotheker von Yoghonoluk. Und doch werden einige Dinge Ihrem Wissen entgangen sein, die dem meinen bekannt sind. So dürften Sie folgenden Ausspruch des erhabenen Gregor von Nazianz nicht kennen und auch die Antwort des Heiden Tertullianus nicht, die ihm dieser gab ...«

      Kein Wunder, daß Gabriel den Ausspruch Gregors von Nazianz nicht kannte, wußte doch einzig und allein der Apotheker von ihm. In seiner unverwirrbaren Art fing er von oben herab zu erzählen an, obgleich die Verwechslung des Kirchenvaters Tertullian mit einem Heiden gleichen Namens eine Entgleisung vorstellte:

      »Einmal war der erhabene Gregor von Nazianz bei dem vornehmen Heiden Tertullianus zu Tische geladen. – Fürchten Sie sich nicht, Gabriel Bagradian, es ist eine ebenso kurze wie tiefsinnige Geschichte. – Sie sprachen über die gute Ernte und über das herrliche Weizenbrot, das sie brachen. Ein Sonnenstrahl lag auf dem Tisch. Gregor von Nazianz hob sein Brot in der Hand und sagte zu Tertullian: Gastfreund, wie müssen wir Gott für sein Geheimnis danken, denn siehe dieses wohlschmeckende Brot hier ist nichts anderes als dieser gelbe Sonnenstrahl, der sich auf dem Felde in Weizen verwandelt hat. Tertullianus aber stand auf und nahm ein Werk des Dichters Virgilius aus der Bibliothek und sagte zu Gregor: Gast, wenn wir Gott schon um eines Brotes willen loben, wie erst müssen wir ihn für dieses Buch hier preisen. Denn siehe, dieses Buch ist der verwandelte Lichtstrahl einer weit höheren Sonne als dieser da, deren Strahlen man auf einem Tische sehen kann.«

      Nach einer Weile fragte Gabriel Bagradian mit trauriger Teilnahme:

      »Und Ihre ganze Bibliothek, Apotheker Krikor? Dies hier kann ja nur ein kleiner Splitter sein? Haben Sie die Bücher vergraben?«

      Krikor erhob sich starr wie ein verwundeter Held:

      »Ich habe sie nicht begraben. Bücher sterben in der Erde. Ich habe sie gelassen, wo sie sind.«

      Gabriel nahm die Laterne auf, die der Apotheker vergessen hatte. Es wurde schon heller, und Krikor konnte es nicht verbergen, daß über seine gelben, gleichmütigen Wangen die Tränen liefen. Bagradian warf sich den Büchersack des Alten