Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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Gleichgültigkeit zu. Arme Juliette! Aber was lag an all diesem Plunder angesichts der nächsten Stunden, Tage, Wochen? Eine tiefere Sorge bedrückte ihn. Er sah Iskuhi, wie sie sich in ihrem Zimmerchen lautlos im Bette versteckt hielt. Sie ging ihn zwar nichts an, war aber doch die Ärmste von allen. Durch diese Bestien zum Krüppel geschlagen, sollte sie jetzt das Ungeheuerliche noch einmal erleben. Bagradian sann, wie er den Muafin und die Saptiehs nur an Iskuhis Tür vorübertäuschen könne.

      Und wirklich, der Himmel schien es günstig fügen zu wollen. Iskuhi, die sich in ihrem Bett wie im Grab verkrochen hatte, hörte das Schrittedonnern und Baßgedröhn des gräßlichsten Todes sich näherwälzen. Sie streckte sich steif aus und bedeckte mit der rechten Hand ihren Schoß, während ihr der Atem schwand und das zerfressene Kaleidoskopgesicht sich über sie beugte. Doch der Vergewaltiger beschnupperte sie nur ganz kurz und verging. Draußen brauste das Schrittedonnern und Baßgedröhn vorüber, verzog sich über die Treppe und blieb unten im Erdgeschoß dumpf hängen. Dann wurde es auf einmal ganz still. Waren sie fort? Iskuhi fuhr aus dem Bett. Auf Strümpfen zur Tür! Einen Spalt geöffnet! Christus, Erlöser, sie waren wirklich fort. – Fast fiel sie ins Zimmer zurück, als diese Peitschenschläge sie nun trafen. Die Peitschenschläge waren Stimmen, Männerstimmen. Sie erkannte den Aufschrei Gabriels. Den lahmen Arm festhaltend, damit er ihr nicht hinderlich sei, lief sie zur Treppe. Unten hatte sich folgendes zugetragen:

      In der Meinung, daß die Schmach überstanden sei, war Gabriel in der Vorhalle nachdrücklich stehengeblieben. Er richtete sein Wort an den Müdir:

      »Sie sehen, es ist Ihnen nichts verweigert worden. – Was noch?«

      Der sommersprossige Edelpolitiker aus Salonik hatte seine Pflicht erfüllt. Es war dafür gesorgt, daß der armenische Effendi mitsamt seiner Familie auf keinen Fall mehr entkommen konnte. Der besondere Auftrag des Kaimakams, die Bagradian-Sippe betreffend, lautete dahin, daß dieselbe in der ersten Transportgruppe unter den schärfsten Bedingungen nach Antakje abzugehen habe, wo der Provinzgewaltige höchstselbst sich die Leute nach seinen eigenen Worten »ein bißchen anschauen« wollte. Der Müdir war der Ansicht, daß die Amtshandlung jetzt abzubrechen sei, um so hervorragende Opfer nicht vorzeitig zur Verzweiflung zu treiben. Ein gewisses Vertrauen dieser Opfer in die unerforschlichen Ziele der Regierung war notwendig und ebenso eine bestimmte Steigerung in den Erlebnissen, die man ihnen zudachte. An diesem Tage sollte Milde walten. Der Müdir zögerte noch, weil er über einen effektvollen Abgang nachsann, wobei sich sein Blick mit den zärtlich gepflegten Fingernägeln innig beschäftigte. Leider aber hatte er nicht mit dem Polizeivogt gerechnet. Dieses trübe Hirn konnte und konnte es nicht verdauen, daß der hochmütige Giaur in des Padischah Uniform, mit des Padischah Orden und Säbel sich wichtig machte. Dabei wußte er nicht, wie er die Sache am besten anpacken solle. Auch hatte ihn seine schmähliche Befangenheit noch immer nicht losgelassen. Da ihm also nichts Besseres einfiel, versuchte er sein starres Auge in rollende Bewegung zu setzen. Dann pflanzte er sich, breit und herausfordernd, vor Bagradian hin:

      »Wir haben nicht alles gesehen! ... Dort oben! ... An einigen Türen sind wir vorübergegangen ...«

      Hätte Gabriel jetzt die Fassung behalten, es wäre vielleicht alles gut abgelaufen. Er aber sprang auf die erste Stufe der Treppe, breitete abwehrend seine Arme aus und schrie:

      »Jetzt aber ist es genug!«

      Da hatte der Muafin endlich sein Stichwort. Er trat, sichtlich erlöst, auf Bagradian zu und hielt ihm die Faust unter die Nase:

      »Was ist genug, Armenierschwein?! Sag es noch einmal? Was ist genug, unreines Schwein!?«

      In Bagradians Geist vollzog sich einer von jenen endlosen und höchst komplizierten Augenblicken, aus denen die menschlichen Schicksale geboren werden. Es war ein ganz und gar besonnener Augenblick. Gabriel wußte genau, daß sein Leben, und nicht nur das seine, jetzt auf dem Spiele stand. Nachgeben, dachte er, zurücktreten, den Weg freigeben, bitte, und oben diesem Tier zehn Pfund zustecken ... Während aber seine Vernunft mit solch leidenschaftsloser Klarheit arbeitete, schrie er noch lauter:

      »Zurück, Polizist! Ich bin Frontoffizier!!«

      Damit war der Muafin ans Ziel seiner Wünsche gelangt:

      »Offizier bist du? Nicht einmal ein stinkendes Hundeaas bist du für mich!«

      Mit raschem Zugriff packte er die silberne Medaille und riß sie vom Waffenrock des Armeniers. Bagradian behauptete später, er habe nicht an die Waffe gerührt. Tatsache aber war's, daß er im Nu auf dem Boden lag. Der Säbel schmetterte gegen die Wand. Ein Saptieh kniete auf Gabriels Brust und die anderen rissen ihm die Uniform vom Leib. Aus dem Selamlik stürzten die Frauen und Gonzague. Stephans Schreie vermischten sich mit dem kämpfenden Keuchen seines Vaters. Es dauerte keine Minute, und Gabriel lag bis auf seine Stiefel nackt da. Er blutete aus einigen Schrammen. Sein Leben war keinen Para mehr wert. Es wäre wohl verloren gewesen, hätte Gonzague Maris in diesem Augenblick nicht die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Seine Bewegung war lässig und doch von einschneidender Wirkung. Auch besaß er jene eindrucksvolle Stimmart, die in der Erregung eisige Ruhe gewinnt. Er hatte seine Dokumente hervorgezogen und hielt sie in die Höhe. Mit dieser Geste fing er alle Blicke ab. Der Müdir sah ihn betroffen an. Der Polizeivogt wandte sich ihm zu, und sogar die Saptiehs ließen von Gabriel. Gonzague entfaltete die Schriftstücke mit der überlegenen Würde eines von Ittihad entsandten Geheimagenten, der den Auftrag hat, die Gebarung der Landesbehörden überraschend zu beobachten:

      »Hier, Paß der Vereinigten Staaten, vom Generalkonsulat in Stambul vidiert!« Er betonte diese selbstverständlichen Worte mit vernichtender Schärfe, als enthülle sich in ihnen eine diplomatische Geheimsendung von entscheidender Wichtigkeit für die Türkei: »Hier, Teskeré fürs Innere mit eigenhändiger Unterschrift seiner Exzellenz. Sie werden mich verstehen, Effendi.«

      Nicht die leere Drohung mit den Pässen rettete Bagradian das Leben, sondern der verzweifelte Trick, die plötzliche Ablenkung. Sie verwirrte den Müdir eine kurze Weile. In den Ausführungsbestimmungen der Deportation wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß die Maßregel vor den Augen der verbündeten und neutralen Konsularvertreter aufs dichteste zu verschleiern sei. Im ersten Moment nahm der Müdir tatsächlich an, daß er es mit einem Vertrauensmann der amerikanischen Botschaft zu tun habe. Ein Blick auf den Paß aber überzeugte ihn von der Ungefährlichkeit des Einspruchs. Im übrigen war er sehr zufrieden damit, daß die Einmischung des Fremden Blutvergießen verhindert hatte. Er gab Gonzague mit höhnischer Großartigkeit zurück:

      »Was gehen mich Ihre Pässe an? Schauen Sie, daß Sie von hier verschwinden! Sonst lasse ich Sie verhaften.«

      Die Verwirrung des Polizeivogts hingegen legte sich nicht so schnell. Auf ihn machte Blut einen weit geringeren Eindruck als Papier. Er hatte während seiner Laufbahn mit Geschriebenem einige üble Erfahrungen gemacht. Man war in dieser Hinsicht der Folgen nie gewiß. Er beschloß also, diesen Bagradian vorläufig leben zu lassen. Auf der Landstraße konnte man die Sache viel einfacher und ohne Zeugen mit amerikanischen Pässen erledigen. Der Muafin steckte daher seinen Dienstrevolver, den er schon entsichert hatte, wieder in die Pistolentasche, betrachtete noch einmal mit seinem großen und seinem kleinen Auge den nackten Offizier, spuckte in weitem Bogen aus und gab seinen Saptiehs den kurzen Befehl:

      »Und jetzt holt die Pferde und Esel!«

      Der Müdir war um seinen effektvollen Abgang gekommen. Er mußte sich damit begnügen, ohne ein nachhaltiges Echo seiner Persönlichkeit zu hinterlassen, der bewaffneten Macht gedankenvoll und unbeteiligt nachzuschlendern.

      Schweratmend hatte sich Gabriel erhoben. Eine einzige Scham hämmerte unablässig in seinem Bewußtsein. Juliette hatte dieses Scheußliche erleben müssen, sie und Stephan. Seine Augen suchten die Frau, die in völliger Erstarrung ihr Gesicht abgewandt hielt. Gabriel schwankte, faßte sich wieder. In seinem Rücken spürte er einen Schauer: Iskuhi. Dann begannen die Wunden zu brennen. Es waren aber nur Hautrisse, nicht der Rede wert. Unhörbar auf Strümpfen kam Iskuhi die Treppe hinab, ganz nahe. Ihre flehenden Augen suchten Samuel Awakian. Der Student brachte einen Mantel und bedeckte Gabriels schweißbedeckten Körper.

      Eine günstige Wendung! Der Müdir, der Polizeihauptmann und der größte Teil der Saptiehs verließen