Obgleich Krikor immer wieder Einspruch erhob, trug Gabriel Bagradian den mächtigen Sack bis zum Nordsattel.
Zweites Buch
Die Kämpfe der Schwachen
»Und die Kelter wurde draußen vor der Ortschaft getreten,
und Blut kam aus der Kelter hervor
bis an die Zügel der Pferde.«
Offenbarung Johannis 14, 20
Erstes Kapitel
Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe
Musa Dagh! Berg Mosis! Auf dem Gipfel des Mosisberges hatte im Morgengrauen das ganze Volk sein Lager bezogen. Die Bergeshöhe, die windige Luft, das Rauschen des Meeres, dies alles wirkte so belebend, daß die Mühen des nächtlichen Aufstiegs vergessen schienen. Man sah keine starren und müden, sondern nur erregte Gesichter. In der Stadtmulde und den benachbarten Regionen schoß alles schreiend durcheinander. Es herrschte nirgends ein Bewußtsein der wirklichen Lebenslage, sondern nur eine gereizte, streitbare Munterkeit. Wie eine Springflut überschwemmte die Sorge um die kleinen Dringlichkeiten der Minute jede Überlegung des Ganzen. Selbst Ter Haigasun, der den Holzaltar in der Mitte des Lagerplatzes bekleidete und somit das Ewige zurüstete, fuhr mit ungeduldigen Scheltworten unter die Männer, die ihm bei diesem Werke halfen.
Gabriel hatte den von ihm zum Hauptbeobachterstand erkorenen Punkt erstiegen. Dieser lag auf einer der felsigen Gipfelkuppen des Damlajik und bot eine klare Aussicht aufs Meer, auf die Orontes-Ebene und die Bergwellen, die gegen Antiochia zu verebbten. Das Tal selbst konnte man von Kheder Beg bis Bitias einblicken. Die äußersten Dörfer waren durch Wegbiegungen der Sicht entzogen. Es gab außer diesem Hauptbeobachterstand natürlich noch zehn oder zwölf exponierte Späherposten, von denen aus die einzelnen Talabschnitte scharf ins Auge gefaßt werden konnten, hier jedoch, von Felsklippen wohlbedeckt, beherrschte man das Allgemeine in großen Zügen. Vielleicht schlug dem einsamen Gabriel Bagradian deshalb, weil er auf diesem Standpunkt der verengenden Lagerwirre überhoben war, als einzigem die wahre Wirklichkeit jetzt so stark ans Herz: Dort im Norden, Osten, Süden, bis nach Antakje, nein, bis nach Aleppo, nein, bis Mossul und Deir es Zor die unabwendbare Vernichtung! Millionen von Moslems, die bald nur mehr ein einziges Ziel haben würden, das freche Armeniernest auf dem Musa Dagh auszuräuchern! Auf der anderen Seite das gleichgültige Mittelmeer, das den steil niederstürzenden Bergrücken schläfrig umbrandete! Mochte Zypern auch hundertmal nahe sein, welcher französische oder englische Kreuzer hatte das geringste Interesse an diesem nackten Teil der syrischen Küste, die völlig außerhalb des Krieges lag? Die Flotten liefen nur in die gefährdeten Richtungen aus, gegen Suez und die nordafrikanische Küste, die tote Bucht von Alexandrette zweifellos stets im Rücken lassend. Bagradian erkannte, das wüste Meer überblickend, daß er während der großen Versammlung sich selbst und die anderen verantwortungslos demagogisch betrogen hatte, als er die Hoffnung auf rettende Kriegsschiffe zu erwecken versuchte. Der höhnisch-öde Meereshorizont belehrte ihn darüber. Unermeßlicher Tod ringsum, ohne den kleinsten Durchschlupf, dies war die Wahrheit! Von diesem Tode fugenlos umschlossen das kleine elende Dorfvolk! Und auch dies war noch nicht alles. Denn sollte sich auch der äußere Tod – was nicht einmal der Wahnsinn erhoffen durfte – wohlwollend träge verhalten, sollte kein Angriff erfolgen, kein Schuß fallen, so müßte trotzdem ein andrer Tod von innen her aufbrechen und das Lager zerstören. Denn wie sparsam man auch immer mit Herden und Vorräten umging, sie ließen sich nicht erneuern und würden in sehr begrenzter Zeit an ihr Ende gelangen. – In der Niederung unten hatte der Gedanke an den Damlajik wie Erlösung gewirkt, denn in bitterer Bedrängnis bedeutet schon der Wille, sich zu bewegen, und die Aussicht auf jegliche Veränderung ein linderndes Heilmittel. Nun aber saß man fest. Das lindernde Heilmittel half Gabriel nicht mehr. Er fühlte sich wie aus Zeit und Raum herausgeschleudert. Das Unabwendbare hatte er wohl für ein paar Augenblicke hinausgeschoben, dafür aber die hundert winzigen Auswege des Zufalls preisgegeben. Handelte nicht Harutiun Nokhudian mit seiner Gemeinde weiser? Ein eisiger Zwang packte Gabriel an. Welch ein unsühnbares Verbrechen an Juliette und Stephan! Er hatte die gute Stunde der Flucht immer wieder vorübergehen lassen, er hatte nicht ein einziges Mal Juliette aus ihrer unbedenklichen Ahnungslosigkeit gerüttelt, obgleich er schon seit jenem fernen Märzsonntag wußte, daß die Falle zugeklappt war. Dieser Erkenntnis seiner unbegreiflichen Schuld folgte eine jähe Blutleere im Kopfe und ein heftiges Schwindelgefühl. Die Horizonte des Meeres und des Landes begannen sich zu drehen. Die ganze Welt war eine rotierende Scheibe und der Musa Dagh der tote, unbewegte Punkt in ihrer Mitte. Den Mittelpunkt dieses Punktes aber bildete Gabriels Körper, der, so hoch er auch stand, die unterste Erstarrung des unabwendbaren Wirbels bedeutete, der um ihn kreiste. Wir wollen doch nur am Leben bleiben, erschauderte er. Doch alsogleich verwunderte es sich schweigend in ihm: Warum eigentlich?
Gabriel Bagradian floh in die Stadtmulde hinab. Die einzelnen Komitees des Führerrates waren schon zusammengetreten, denn die hundertfältige Arbeit des ersten Tages wartete auf Einteilung. Gabriel forderte, daß alle werktauglichen Leute, Männer und Frauen, sich unverzüglich an die Arbeit bei den begonnenen Gräben und Riegeln machten. Der gesamte Stellungsbau müsse in der Hauptsache morgen abends beendet sein, denn wer könne das wissen, vielleicht sei schon für übermorgen der erste Türkenangriff zu gewärtigen. Immer und immer wieder müsse er es wiederholen, daß die Verteidigung und was zu ihr gehöre, die schärfste Mannszucht und Unterordnung der Kämpfer, allen anderen Dingen vorangehe. Da man ihn, Gabriel Bagradian, zum Führer dieser Verteidigung eingesetzt habe, so sei es nunmehr auch notwendig, daß man ihm die oberste Befehlsgewalt einräume, und zwar nicht nur über das erste Aufgebot, sondern ebenso über die Reserve, das heißt über Kämpfer und Arbeiter, somit über das ganze Lager. Pastor Aram Tomasian, der leider ein sehr empfindlicher Mann war, betonte demgegenüber, daß es nicht weniger wichtig sei, die inneren Zustände des Lagers in Ordnung zu bringen. Vorläufig herrsche noch wüste Anarchie, jede Familie beneide die andre um den zugeteilten Wohnplatz, und auch die einzelnen Dorfgemeinden seien mit ihren Lagergebieten unzufrieden. Bagradian wandte sich gegen den Einwand des Pastors: Unzufriedenheit dürfe es einfach nicht geben, da ein verschärfter Kriegszustand herrsche. Gegen Murrende habe man sofort mit empfindlichen Strafen vorzugehen. Thomas Kebussjan und die übrigen Muchtars schlugen sich sogleich auf die Seite des Pastors. Selbst Bedros Altouni mahnte hartnäckig, man müsse vorerst für die körperlichen Bedürfnisse des Volkes Sorge tragen und alsbald mit dem Bau des Lazarettschuppens beginnen, damit sich der Zustand der Kranken und Leidenden nicht verschlimmere. Nun meldeten sich die Muchtars und die Lehrer, einer nach dem andern, zum Wort, um die unaufschiebbaren Notwendigkeiten der eigenen Kompetenz weitschweifig zur Geltung zu bringen. Mit Entsetzen machte Bagradian die Erfahrung, wie schwierig es ist, in einer beratenden Körperschaft das Einfachste und Selbstverständlichste durchzusetzen. Eitles, regelloses Gerede begann sich auszubreiten. Aber nach einigen Minuten schon zeigte die Verfassung, die Gabriel Bagradian dem Führerrat gegeben hatte, ihre Vorzüglichkeit. Ter Haigasun besaß die rechtmäßige Autorität, in schwankenden Fällen eine Entscheidung auf kurzem Wege herbeizuführen. Er machte von dieser Autorität in weise-unauffälliger Art so geschickten Gebrauch, daß niemand mehr einen Antrag stellte und die Lage durch eine gefährliche Abstimmung verwirrte: Gabriel Bagradian sei durchaus im Recht. Hinter den Pflichten der Verteidigung müsse alles andere zurücktreten. Die Dienstordnung, die dem Führerrat seit Tagen schriftlich vorliege, habe unverzüglich vor den Zehnerschaften verlesen zu werden und von Stund an in Kraft zu treten. Dem Befehlshaber sei jedermann unbedingten Gehorsam schuldig. Da er den Krieg als tapferer Offizier kennengelernt habe und damit einen bedeutenden Vorrang vor allen übrigen Gewählten besitze, so überlasse ihm der Führerrat vorbehaltlos alle jene Bestimmungen, welche den Kampf, die Kampfesvorbereitung und die Mannszucht betreffen. Gabriel Bagradian und der ihm beigegebene Kriegsausschuß hätten keine Verpflichtung, ihre Entschlüsse dem allgemeinen Rat zur Annahme