»Sehn Sie! Da haben wir Herrn von Scheubner-Richter in Erzerum! Da haben wir Hoffmann in Alexandrette und den Generalkonsul Rößler in Aleppo. Die Leute berichten und berichten. Sie zerreißen sich für die Armenier. Gott weiß, wie viele Hunderte dieser Ärmsten der Rößler allein gerettet hat. Und was ist der Dank für seine Menschlichkeit? Die englische Presse stellt ihn als Bluthund dar, der die Türken in Marasch zum Massaker aufgereizt hat. Was soll man da tun?«
Lepsius sucht jetzt den Blick des Liebenswürdigen, der hinter seiner Papierdeckung auftaucht und verschwindet wie ein launischer Mond hinter Wolken:
»Ich wüßte schon, was man tun soll, Herr Geheimrat ... Rößler und die andern, das sind lauter Ehrenmänner, ich kenne sie ... Rößler ist außerdem ein ganz besonders feiner Kerl ... Aber was kann solch ein kleiner bedauernswerter Konsul ausrichten, wenn er nicht die nötige Unterstützung findet?«
»Na hören Sie mal, Herr Pastor? Keine Unterstützung? Das ist doch mehr als ungerecht.«
Lepsius macht eine knappe nervöse Handbewegung, mit der er ausdrückt, daß die Sache zu ernst und die Zeit zu kurz sei, um mit höflichen Palavers verloren zu werden:
»Ich weiß sehr gut, Herr Geheimrat, daß alles Erdenkliche geschieht. Die täglichen Interventionen und Demarchen der Botschaft sind mir wohlbekannt. Aber wir haben es ja nicht mit Staatsmännern zu tun, die in der Ehrfurcht vor den diplomatischen Spielregeln aufgewachsen sind, sondern mit Leuten wie Enver und Talaat. Für diese Leute ist alles Erdenkliche viel zuwenig und nicht einmal das Unausdenkliche genug. Die Ausrottung der Armenier ist das Palladium ihrer nationalen Politik. Ich habe mich in einem langen Gespräch mit Enver Pascha selbst davon überzeugen können. Ein ganzes Trommelfeuer von deutschen Demarchen wirkt auf diese Leute bestenfalls als Belästigung ihrer scheinheiligen Höflichkeit.«
Der Geheimrat kreuzt die Arme. Sein langes Gesicht nimmt einen erwartungsvollen Ausdruck an:
»Und wissen Sie, Herr Doktor Lepsius, einen anderen Weg, um sich in die inneren Angelegenheiten einer befreundeten und verbündeten Macht einzumischen?«
Johannes Lepsius versenkt den Blick aufmerksam in sein Hutinneres, als habe er sich dort einen Zettel mit Notizen zurechtgelegt. Doch, bei Gott, wie überflüssig wäre diese Vorsorge. Zehntausend solcher Notizen durchschwirren bei Tag und Nacht seinen armen Kopf, so daß er fast keinen Schlaf mehr findet. Er will sich jetzt nur sammeln, um kurz und methodisch vorzugehen:
»Wir müssen uns vor allem klarmachen, was in der Türkei geschieht und schon geschehen ist: Eine Christenverfolgung von solchem Ausmaß, daß sie sich mit den berühmten Verfolgungen unter Nero und Diokletian nicht im entferntesten vergleichen läßt. Und außerdem das allergrößte Verbrechen der bisherigen Weltgeschichte, was schon einiges heißen will, wie Sie mir zugeben werden ...«
In die hellen Augen des Beamten tritt eine leichte Neugier. Er schweigt, während Lepsius mit wohlabgewogenen Worten sich Schritt für Schritt weitertastet. Seit seiner Niederlage durch Enver Pascha hat er ohne Zweifel so manches für den Umgang mit Politikern zugelernt:
»Wir dürfen in den Armeniern nicht irgendein halbwildes Ostvolk sehen ... Es sind kultivierte, gebildete Menschen mit einer Nervenverfeinerung, die man, ich sage es offen, bei uns in Europa nur selten antrifft ...«
Kein Zucken in dem schmalen Gesicht des Geheimrats läßt darauf schließen; daß er diese Rangbestimmung des armenischen »Händlervolkes« vielleicht für übertrieben hält.
»Es geht hier«, fährt Johannes Lepsius fort, »keineswegs um eine innerpolitische Frage der Türkei. Nicht einmal die Ausrottung eines kleinen Zwergnegerstammes ist eine innerpolitische Frage der Ausrotter und Ausgerotteten. Um so weniger können wir Deutschen uns in eine bedauernde oder verzweifelte Neutralität retten. Das feindliche Ausland macht uns verantwortlich.«
Der Geheimrat schiebt mit einem Ruck die Aktenstöße von sich, als brauche er Luft:
»Es gehört zur tiefen Tragik der deutschen Kriegführung, daß wir, so reinen Gewissens wir auch sind, mit fremder Blutschuld belastet werden ...«
»Alles auf dieser Welt ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage.«
Der Geheimrat nickt Beifall:
»Ausgezeichnet, Herr Pastor, auch ich vertrete immer die Ansicht, daß man bei jeder politischen Entschließung zuerst das Moralische kalkulieren muß.«
Lepsius wittert Erfolg. Jetzt heißt es, zuzupacken:
»Ich sitze hier nicht als einzelner armer Mensch bei Ihnen, Herr Geheimrat. Es ist keine Anmaßung, wenn ich sage, daß ich im Namen der ganzen deutschen Christenheit gekommen bin, der protestantischen, ja auch der katholischen. Ich handle und spreche in Einigkeit mit bedeutenden Männern wie Harnack, Deißmann, Dibelius ...«
Der Geheimrat bestätigt das Gewicht dieser Namen durch einen anerkennenden Blick. Johannes Lepsius aber gerät in seinen alten Schwung, der ihm schon oft gefährlich geworden ist:
»Der deutsche Christ ist nicht mehr gewillt, diesem Verbrechen am Christentum tatenlos zuzusehen. Sein Gewissen erträgt es nicht, durch Lauheit länger mitschuldig zu sein. Die Siegeshoffnung des Reiches steht und fällt mit der Freudigkeit der deutschen Christen. Ich für meine Person schäme mich bis zum Ekel, daß die feindliche Presse spaltenlang über die Deportation berichtet, während das deutsche Volk in den deutschen Zeitungen mit den lügnerischen Kommuniques Envers abgespeist wird und sonst kein Wort erfährt. Verdienen wir es nicht, die Wahrheit über das Schicksal unserer Glaubensgenossen zu hören? Diesem unwürdigen Zustand muß ein Ende gemacht werden.«
Der Geheimrat, über den anklägerischen Ton des Pastors ein wenig erstaunt, legt die Finger aneinander und bemerkt unschuldig:
»Aber die Zensur! Die Zensur könnte das niemals gestatten. Sie ahnen ja gar nicht, wie verwickelt diese Dinge sind, Herr Lepsius.«
»Das primitivste Recht des deutschen Volkes ist es, nicht betrogen zu werden.«
Der Geheimrat lächelt nachsichtig: »Was würde die Folge dieses Pressefeldzuges sein? Eine schwere Belastung der deutschen Nerven und des türkischen Bündnisses.«
»Dieses Bündnis darf uns nicht vor der Geschichte zu Hehlern machen. Wir wünschen daher, daß unsre Regierung schleunig eine Tat setze. Fordern Sie doch in Stambul mit dem allergrößten Nachdruck, daß eine neutrale Kommission, Amerikaner, Schweizer, Holländer, Skandinavier, nach Anatolien und Syrien eingelassen werde, um die Vorgänge zu untersuchen!«
»Sie kennen die jungtürkischen Machthaber zu genau, Herr Pastor Lepsius, um nicht selbst berechnen zu können, welche Antwort wir auf diese Forderung bekämen.«
»Dann muß Deutschland zu den stärksten Mitteln greifen ...«
»Und die wären nach Ihrer Ansicht?«
»Die Drohung, der Türkei alle Hilfe zu entziehen und die deutsche Militärmission, die deutschen Offiziere und Truppen von den Fronten abzuberufen.«
Die Liebenswürdigkeit auf den kühl-gewinnenden Zügen des Geheimrats verwandelt sich in teilnahmsvolle Güte:
»Man hat Sie mir wirklich so geschildert, wie Sie sind, Herr Pastor Lepsius, so ... unschuldig ...«
Er steht schlank auf. Sein grauer Sommeranzug sitzt nicht so unerbittlich straff wie sonst bei seinesgleichen. Diese leichte Nachlässigkeit seiner Art flößt Vertrauen und Sympathie ein. Er wendet sich zu der großen Karte, Europa und Kleinasien, die an der Wand hängt, und bedeckt den Osten ungenau mit seiner blaugeäderten Hand:
»Die Dardanellen, der Kaukasus, Palästina und Mesopotamien, das sind heute deutsche Fronten, Herr Lepsius, mehr noch als türkische. Wenn sie zusammenbrechen, bricht unser ganzes Kriegsgebäude zusammen. Wir können doch wohl den Türken nicht mit unserem eigenen Selbstmord drohen, ohne uns lächerlich zu machen. Ich brauche nicht erst auf die ungeheuere Bedeutung hinzuweisen, die S. M. der Kaiser unsrer orientalischen Macht beimißt. Sollten Sie aber nicht wissen, daß sich die Türken durchaus nicht als