»Für deine Tollheiten habe ich keine Zeit. Gib den Weg frei!«
Die Rädelsführerin – sonst eine kleine unauffällige Frau mit geschwinden Mausaugen – reckte sich jetzt, durch Juliettens Fall wie eine Pfingstrose erblüht, zu feierlicher Höhe auf:
»Und die Sünde, Priester, he? Christus, der Erlöser, hat uns vor dem Tode bewahrt, bisher. Er hat auf unserer Seite gekämpft. Er und die heilige Gottesmutter. Jetzt aber sind sie durch Todsünde beleidigt worden. Werden sie uns nicht den Türken ausliefern, wenn keine Buße geschieht, he?«
Die Muchtarin glaubte einen Trumpf ausgespielt zu haben und blickte sieghaft umher. Ihr Mann, Thomas Kebussjan, hielt sich dicht hinter dem Rücken des Priesters, sah mit seinen ungleichen Augen alle und niemanden an und schien durchaus keine Lust zu haben, in das Ärgernis mit hineingezogen zu werden. Ter Haigasun aber antwortete nicht der Eifernden, sondern der Menge, die sich um ihn drängte:
»Ja! Es ist wahr! Christus, der Erlöser, hat uns bewahrt bisher. Und wollt ihr wissen wodurch? Weil er uns durch ein großes Wunder rechtzeitig Gabriel Bagradian gesandt hat, der ein wirklicher Offizier ist und den Krieg kennt und versteht. Sonst wäre es schon längst aus mit uns. Seinem Kopf und seinem Mut haben wir es zu verdanken, wenn wir noch immer leben. Daran sollt ihr denken, nur daran und an gar nicht andres!«
Die Wendung überzeugte einen Teil der Menge, und die kühleren Köpfe, die sich schon über die lüsterne Gehässigkeit der halbalten Weiber ärgerten, bekamen die Überhand. Die Kebussjan, die ihre Anhänger zusammenschmelzen sah, spähte um Hilfe. Schnell entdeckte sie hinter dem Rücken des Priesters ihren Gatten, der vor einer halben Stunde noch ihr moralisches Entsetzen restlos geteilt und unterstützt hatte. Sie rief ihn hochtrabend an:
»Hier steht der Muchtar! Hört den Muchtar, der sich seit zwölf Jahren für euch plagt, hört ihn an, was er zu sagen hat!«
Aber der so demagogisch aufgerufene Muchtar hatte gar nichts zu sagen, sondern ließ seine Frau blamiert stehen und verschwand schnell und mit leicht wackelnder Glatze hinter Ter Haigasun in der Pfarrhütte. Ringsum wagten sich schon spöttische Männerstimmen hervor:
»Rührt lieber in eurem eigenen Schmutz! Zu wenig Arbeit haben diese Weiber. Man müßte sie einspannen.«
In Ter Haigasuns Laubhütte hatte sich nur ein kleiner Kreis der Führer versammelt. Es handelte sich um einen privaten, äußerst heiklen Fall; man war deshalb aus einem kaum bewußten Feingefühl nicht in die Regierungsbaracke, sondern hier zusammengetreten. Da ein rein moralischer Gegenstand vorlag und Ter Haigasun auf moralischem Gebiet unbeschränkter Alleinherrscher war, wurden ihm ohne weitere Beratung alle Entschlüsse in dieser Sache anheimgegeben. Er wählte zwei Botschafter, Apotheker Krikor und Doktor Bedros Altouni. Der eine sollte sich zu Gonzague Maris begeben, da er ihn ja beherbergt und gewissermaßen in die Welt von Yoghonoluk eingeführt hatte. Der Arzt hingegen wurde als ältester Freund und Schützling des Hauses Bagradian zu Gabriel entsandt. – Was den kranken Apotheker anbelangt, so hatte sich der kleine Rausch beim Taufgelage als eine Arznei erwiesen, die alle andern Mittel, die er noch besaß, in ihrer Heilwirkung weit übertraf. Seit zwei Tagen konnte er sich auf seinen Beinen wieder besser fortbewegen, wenn auch nur langsam und mit kleinen Schritten. Ter Haigasun ließ ihn aus seinem Verschlag holen und entwickelte ihm in wenigen Worten seine Sendung: Er möge ohne Verzug seinen ehemaligen Gastfreund aufsuchen. Zwei Ordonnanzen der Jugendkohorte würden ihn auf diesem Gang stützen und ihm Hilfe leisten sowie den Mann ausforschen. Sei er gefunden, möge ihm Krikor mit Hinweis auf drohende Lebensgefahr eindringlich bedeuten, daß er so schnell wie möglich aus dem Umkreis des Lagers zu verschwinden habe. Krikor wehrte sich lange und heftig, diesen Auftrag zu übernehmen. Er sei in seinem irdischen Beruf zwar Apotheker, jedoch kein Herbergsknecht, der einen unerwünschten Gast ins Freie befördere. Auf all seine Einwendungen hatte Ter Haigasun nur die lakonische Antwort:
»Du hast ihn uns zugeführt, nun sollst du ihn auch wieder entlassen.«
Es half nichts. Apotheker Krikor mußte sich nach längerem Widerstand mitsamt seinen schmerzhaften Knochen auf diesen widerwärtigen Weg machen. Während er am Stock unsicher einherhinkte, prüfte er in tragischen Selbstgesprächen die Worte, mit denen er sich seiner Aufgabe in zarter und feinsinniger Art am leichtesten entledigen könne. Demgegenüber erhielt Bedros Hekim die weit gelindere Pflicht. Er hatte Gabriel Bagradian von der allgemeinen Empörung vorsichtig in Kenntnis zu setzen und die Bitte hinzuzufügen, Juliette Hanum möge bis auf weiteres ihr Zelt nicht verlassen.
Während die andern Ter Haigasuns Verhandlung mit Krikor und dem Arzt schweigend hinnahmen, erhob einer, der sonst ein verstockter Schweiger war, seine Stimme zu einer wortgewaltigen Rede. Bis zu dieser Stunde hatte der schwarze Hrand Oskanian als ein belächelnswerter Narr gegolten, dessen boshaft eitle Narretei man sich gefallen ließ, weil man in ihm einen tüchtigen Lehrer achtete. Nun aber durchbrach der feuerfarbene Fanatiker die Larve des Narren. Alle starrten ihn gebannt an, denn von seinen Worten ging eine wilde Kraft aus. Oskanian forderte teuflische Rache an Gonzague Maris: Man solle diesem Schurken vorerst den amerikanischen Paß und den Teskeré abnehmen, ihn dann völlig entkleiden, an Händen und Füßen fesseln und nachts von kühnen Männern ins Tal tragen lassen, damit ihn die Türken für einen Armenier hielten und langsam abschlachteten.
Mit bestürztem Mißbehagen gingen die Männer über den tollen Ausbruch Hrand Oskanians hinweg. Aber der Lehrer ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er begann allen Ernstes die unumgängliche Notwendigkeit der von ihm beantragten Strafe zu begründen. Ter Haigasun hörte den langatmigen Schwall nicht mit halb-, sondern mit ganzgeschlossenen Augen an. Seine Hände verkrochen sich fröstelnd in den Kuttenärmeln, was stets ein deutliches Zeichen seines Unwillens war:
»Bist du nun endlich fertig, Lehrer?«
»Nicht früher, als bis ihr die Wahrheit ebenso einsehen werdet wie ich!«
Ter Haigasun machte eine belästigte Bewegung mit dem Kopf, um diese surrende Hornisse zu verscheuchen:
»Ich glaube, zu diesem Fall ist kein weiteres Wort zu verlieren.«
Oskanian schäumte auf:
»Also der Führerrat will den Halunken mit Segenswünschen entlassen, damit er uns bereits morgen an die Türken verrät?«
Ter Haigasun blickte gepeinigt zum Laubdach der Hütte empor, das im Winde raschelte:
»Selbst wenn er uns verraten will, was könnte er verraten?«
»Was er verraten kann? Alles! Die Lage der Stadtmulde! Die Weideplätze! Die Stellungen! Den schlechten Stand unserer Vorräte. Die Krankheit ...«
Ter Haigasun schnitt diese Aufzählung mit einer müden Handbewegung ab:
»Mit solchen Neuigkeiten wird sich niemand bei den Türken einschmeicheln. Glaubst du wirklich, daß sie so dumm sind und diese Dinge nicht alle schon wissen? Ihre Kundschafter haben nicht vergeblich jeden Winkel abgesucht ... Und außerdem ist der junge Mensch kein Verräter.«
Die Worte des Priesters fanden volle Zustimmung in der Runde. Hrand Oskanian aber schleuderte seine Fäuste verzweifelt vor, als wollte er das entwischende Opfer an einem Zipfel festhalten:
»Ich habe einen Antrag gestellt«, krähte er, »und ich fordere, daß du diesen Antrag ordnungsgemäß abstimmen läßt.«
»Anträge kann jeder Schwätzer und Dummkopf stellen. Es ist aber einzig und allein meine Sache, diese Anträge zur Abstimmung zuzulassen, überflüssige Anträge lasse ich nicht zur Abstimmung zu. Merk dir das, Lehrer! Es sitzt hier übrigens niemand, der deinen Antrag nicht für niederträchtig und verrückt hält. Wer andrer Ansicht ist, erhebe die Hand!«
Nicht eine Hand rührte sich. Der Priester nickte abschließend:
»Und damit ist es ein für allemal genug. Du hast mich verstanden.«
Der Durchgefallene erhob sich stolz zu seiner geringen Höhe und wies in die Richtung des Platzes:
»Unser Volk dort draußen hat eine andre Meinung als ihr ...«
Hatte das Benehmen Oskanians den