»Leben diese Männer immer in dem Tekkeh?«
»Nein, es ist ein großer und glücklicher Zufall, daß sie heute den Scheich besuchen. Der alte Herr dort, der Verwalter der Stammtafel, kommt von sehr weit her, aus Syrien, von Antiochia, glaub ich. Er ist der älteste Freund unsres Scheichs, wissen Sie. Agha Rifaat Bereket heißt er.«
»Agha Rifaat Bereket«, wiederholt Lepsius zerstreut, als sei ihm dieser Name nicht ganz fremd. Er hat aber weder für den Agha Augen noch auch für die dreißig oder fünfunddreißig anderen Personen, die erwartungsvoll den Saal durchmurmeln, sondern nur für den stolzen Türbedar. Deshalb bemerkt er den Eintritt des Scheichs Achmed erst in dem Augenblick, da sich dieser auf seinen Sitz niederläßt. Nezimi Bey hat recht gehabt. Äußerlich sieht man diesem geistlichen Ordenshaupt, das wohl über Hunderttausende treue Seelen gebietet, nicht viel von seiner Bedeutung und seinen Kräften an. Er ist ein korpulenter Weißbart, dessen Züge von überlegener Freundlichkeit sprechen und eine praktische Beurteilung der Erdendinge nicht verhehlen.
Alles ist aufgesprungen und hat sich geradezu mit Gier auf den alten Scheich gestürzt, um seine Hand zu küssen. Erst als sich die andern mit diesem Ehrfurchts- und Liebesbeweis gesättigt haben, neigt sich der Türbedar als letzter über die weiche dicke Rechte Achmeds.
Die Zikr-Ekstase, deren Zeuge er nun wird, läßt Johannes Lepsius nicht nur kalt, sondern erfüllt ihn sogar mit einem dunkeln, schwer beschreiblichen Unbehagen. Die Zeremonie beginnt damit, daß sich der schöne Sohn des Scheichs mit zehn anderen jungen Leuten, die gleich ihm weiße hemdartige Kutten tragen, an die westliche Wand des Saales in eine Reihe stellt. Den rechten Flügel dieser Reihe bildet das kleine Kind, dessen Gesichtchen von altklugem Ernste strahlt. Irgendwoher dringt eine einförmig näselnde Schalmeienmusik. Vor einem goldgeschnitzten Koranständer steht ein Mann mit geschlossenen Augen, der in halblauten unangenehmen Falsettönen eine Sure psalmodiert. Der alte Scheich Achmed gibt ein kaum sichtbares Zeichen mit der Hand. Die Schalmei und Litanei verstummt. Der Sohn wirft den Kopf lauschend zurück wie einer, der einen leisen Regen mit seinem Gesicht auffangen will. Aus seiner Kehle aber steigen Laute auf, zittrig erstickt, als sei des Glückes zuviel, die Silben des unfaßbaren Verses aussprechen zu dürfen, in denen die ganze Kraft des geoffenbarten Buches gesammelt ist: »La-ilah-ila-'llah.« »Es ist kein Gott außer Gott.« Nun haben auch die anderen Männer den Kopf zurückgeworfen, und die zweimal drei Silben des Bekenntnisses vereinigen sich zu einem wundersamen stöhnenden Summen. Damit ist wie bei einem Musikstück das Thema angeschlagen, das nun entwickelt wird. Die Gestalt des Sohnes gerät zunächst in eine leichte eckige Schwingung. Während das »La-ilah-ila-'llah« einen entscheidenden Tonfall annimmt, neigt er seinen Oberkörper in die vier Richtungen des Weltraumes, vorwärts, rückwärts, nach rechts, nach links. Diese viertaktige Schwingung geht auf die andern über, indem sie sich allmählich steigert. Es herrscht aber durchaus keine Symmetrie der Bewegung wie etwa beim Exerzieren oder beim Ballett. Im Gegenteil! Jeder überläßt sich seinem eigenen Gesetz. Jedes Ich dieser Gemeinschaft scheint in der leidenschaftlichen Anrufung seines Gottes mit sich allein zu sein. Dadurch aber entsteht eine vielfältigere und höhere Symmetrie, als sie der mechanische Gleichtakt je bewirken kann, die Symmetrie eines sturmgeschüttelten Waldes, die Symmetrie einer erregten Meeresbrandung. Die völlige Freiheit und Einsamkeit des Ichs zu seinem Gott ermöglicht erst eine organische Gemeinschaft. Der alte Scheich, seine Kalifen und die übrigen Anwesenden nehmen an der Zikr-Übung mit leicht begleitenden Bewegungen teil. Der Knabe des jungen Scheichs neigt mit verzweifeltem Ernst seinen kleinen Körper nach allen Seiten. Manchmal kann man sein rührendes Kinderstimmchen aus dem allgemeinen Schwall des »La-ilah« piepen hören. Nach zwölf Minuten etwa sind die Körperschwingungen der Derwische fast rechtwinklig und die Rufungen zu einem ungegliedert heiseren Gebrülle geworden. Wieder ein knappes Zeichen des alten Scheichs. Die Zeremonie bricht jäh ab. In die Herzen der Teilnehmer und der Zuschauer aber scheint eine überschwengliche Freude, eine innerlichste Glücksbefriedigung eingezogen zu sein. Die Gesichter verklärt ein erschöpftes Lächeln. Die Männer umarmen einander. Johannes Lepsius muß an die altchristliche Agape denken. Aber wie? Diese Liebesfeier dort unten kommt ja nicht aus dem Geiste, sondern aus wilden Verrenkungen des Körpers. Er versteht sie nicht. Inzwischen sind ein paar neue Menschen durch eine kleine Tür in den Saal getreten. Sie tragen Wasserkrüge, Schüsseln mit Speisen, ja sogar Kleidungsstücke vor Scheich Achmed, der über diese Dinge mehrmals hinhaucht. Nun haben sie Heilkraft gewonnen. Nach einer Pause wird dann der Zikr von neuem und auf einer gesteigerten Stufe aufgenommen. Die heilige Vierzahl herrscht. Es finden daher vier Ekstasen statt, jedesmal durch eine Pause unterbrochen. Die Gewalt und das Tempo der letzten ist von solcher beinahe unerträglichen Wildheit, daß Johannes Lepsius zeitweilig die Augen schließt, weil ihm seekrank zumute ist. Als dieser letzte Zikr seinem Höhepunkt entgegengeht, springt plötzlich der spindeldürre Greis mit den Gesichtszuckungen von den Stufen in den Raum hinab und beginnt sich wie ein toller Kreisel um sich selbst zu drehen, bis er in einem epileptischen Krampf zusammenbricht. Der Pastor wendet sich nach dem Arzt um, der hinter ihm sitzt. Wird Nezimi nicht hinabeilen, um dem Epileptiker zu helfen? Doch der elegante Mann, der an der Sorbonne studiert hat, scheint selbst nicht mehr bei Sinnen zu sein. Sein Oberkörper kreist. Die Augen sind ertrunken. Und zwischen den Lippen unter dem englischen Schnurrbärtchen lallt er nun auch das lang zurückgedrängte »La-ilah-ila -'llah« hervor. Das Unbehagen des Pastors erreicht seinen Tiefpunkt. Doch er fühlt nicht nur einen Widerwillen gegen das, was ihn so fremd barbarisch anmutet, sondern zugleich auch befangene Scham darüber, daß er diesem gottestrunkenen Vorgang dort unten mit seiner westlichen Seele nicht gewachsen ist.
Diese tiefe Befangenheit hält auch noch an, als er in das Innerste dieser wildfremden Welt, in das Audienzzimmer des Scheichs tritt. Damals, als er sich Enver Pascha gegenüberfand, war er nicht beklommener gewesen als jetzt. Der Scheich Achmed jedoch empfängt ihn mit großer Freundlichkeit. Er geht ihm und Nezimi Bey einige Schritte entgegen. In dem geräumigen Zimmer haben sich von den Kalifen des Scheichs der Türbedar aus Brussa, Agha Rifaat Bereket, der junge Scheich und der Infanteriehauptmann eingefunden. Es gibt keine anderen Sitzgelegenheiten als niedrige Diwans, die an die Wände geschoben sind. Scheich Achmed bietet dem Pastor einen Platz dicht an seiner Seite an. Johannes Lepsius muß sich wie die anderen auf seine gekreuzten Beine niederlassen. Die Augen des alten Achmed, in denen außer der klarsten Weltklugheit noch eine unerklärliche Windstille haust, wenden sich zu dem Gast:
»Wir wissen, wer du bist und was dich zu uns führt. Ich zweifle nicht, daß du uns verstehen wirst, so wie wir dich zu verstehen hoffen. Vielleicht hat dir unser Bruder Nezimi schon berichtet, daß wir hier weniger uns auf Worte verlassen als auf die Berührung von Herz zu Herz. So laß uns denn prüfen, wie es mit unsern beiden Herzen steht.«
Der Rock des Deutschen ist zugeknöpft. Scheich Achmed öffnet mit seiner eigenen weißen Hand diese Knöpfe. Er lächelt, wie um Entschuldigung bittend:
»Wir wollen uns näherkommen.«
Johannes Lepsius spricht und versteht gut türkisch und recht gut arabisch. Scheich Achmed aber bedient sich einer schwierigen Mischung beider Sprachen, weshalb er für besonders heikle Wendungen Nezimi zum Dolmetsch bestimmt. Der Arzt übersetzt:
»Es gibt ein zwiefaches Herz. Das fleischliche und das geheime himmlische Herz, das jenes umschließt, so wie der Duft die Rose einhüllt. Dieses zweite Herz verbindet uns mit Gott und mit den Menschen, öffne es bitte!«
Der schwere Leib des vielleicht