Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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Überheblichen und Unechten brach aus. Vergessen war der Königsrang der Bagradians, den man ihnen ein paar Stunden lang nach jedem abgewehrten Angriff im stillen zubilligte. Der Urhaß gegen die anmaßenden Außenseiter blieb übrig. Mit mordgierigen Grimassen warfen sich die Buben auf Stephan und es begann teils eine Prügelei, teils eine Jagd, die sich bis zur Stadtmulde und auf den Altarplatz verzog. Hagop hielt im Gegensatz zu seinem charakterlosen Lachen während der Freiwilligenwahl jetzt sehr tapfer zu Stephan. Er hüpfte an seiner Krücke mit weiten erbitterten Sprüngen immer wieder zwischen den Freund und seine Verfolger. Haik aber war nicht da, um zu beweisen, wie er in Wahrheit zu Stephan stand. Der Aleppoläufer verbrachte die letzten Stunden auf dem Damlajik einsam mit der Witwe Schuschik, seiner Mutter. Der Bagradiansohn floh zwar vor dem Rudel, war aber dennoch stärker und größer als die meisten. Hängten sich ein paar an ihn, so schüttelte er sie ab wie der Bär die Hunde. Bekam er jedoch einen wirklich zu fassen, dann schmiß er ihn so gründlich hin, daß ihm Hören und Sehen verging. Mag es auch der allgemeinen Überzeugung widersprechen, das Stadtkind zeigte sich den Naturkindern an Körperkraft weit überlegen. Diese Verfolgung stellte den Respekt zwischen den Jägern und dem Wild wieder her. Das Geheul aber holte alle Bewohner der Stadtmulde aus den Hütten auf den Altarplatz. Nun war wieder Sato an der Reihe, mit ihren Berichten zu glänzen. Die Horde ließ von Stephan ab, der sich in Sicherheit bringen konnte. Es trieb ihn mächtig zu den Eltern. Auf dem Wege zum Dreizeltplatz aber schlug er plötzlich einen Haken und legte sich irgendwo ins Gras. Ein gräßlicher Schmerz wollte ihm die Kehle zerquetschen: Ich kann nicht mehr nach Hause.

      Die Rauferei der Halbwüchsigen vollendete nur das Werk, das die Muchtarinnen unter Führung der Kebussjan schon begonnen hatten. Ehe noch die Dämmerung da war, wußten die Gemeinden alles, und zwar um zahlreiche entrüstungfördernde Ausschmückungen vermehrt. Es war die Stunde, in der aus irgendwelchen Wettergründen der Bergbrand am dichtesten zu qualmen pflegte. In mehreren schwärzlichen Schichten lagen die Wolken über der Stadtmulde, und der ätzende Harzrauch reizte die Schleimhäute und die Herzen. Das Niesen, Schneuzen, Räuspern wurde zu einer schweren Plage. Sie steigerte die Empörung. Wie? War es wirklich möglich? Das Volk des Musa Dagh, das vor zwei Tagen knapp dem Tode entgangen war, um dem Tod über kurz oder lang nicht wieder zu entgehen, konnte sich in seiner verzweifelten Lage über diese Geschichte so tief erregen, die noch dazu unter Fremden spielte? Darauf gibt es nur eine Antwort: Gerade weil es Fremde waren, nahm die lang gehegte Mißgunst jetzt die Gelegenheit wahr, sich laut zu offenbaren. Solange in der friedlichen Talzeit Juliette ihr Haus in Yoghonoluk geführt hatte oder als strahlende Reiterin auf den holprigen Dorfwegen erschienen war, so lange hatte man sich vor der Fremden gebeugt und gerade das Fremde an ihr als das Unerreichbar-Höhere bewundert. Durch die Ereignisse aber, durch das neue Leben auf dem Musa Dagh, durch die Führerschaft Gabriel Bagradians war alles gewaltig verändert. Juliette Hanum spielte nicht mehr die unverbindliche Rolle einer unter Armenier verschlagenen Französin, sondern sie war mit dem Volke nunmehr auf Tod und Leben verbunden, sie war ihm verantwortlich. Gabriel Bagradian konnte hundertmal das Sonderschicksal und die Sonderrechte seiner Frau betonen, das Gefühl des Volkes gewährte ihr sie von Tag zu Tag weniger. Die Königin, die Gemahlin des Königs in einer Monarchie, ist stets eine Fremde, wird aber gerade deshalb mit verschärfter Strenge zur Verantwortung gezogen. Juliette hatte sich in diesem Sinne nicht nur gegen ihren Gatten vergangen, sondern auch gegen sein Volk, und zwar nicht mit einem armenischen Manne, sondern mit dem einzigen Fremden, den es hier außer ihr gab. So merkwürdig es klingen mag, diese Liebeswahl entschuldigte sie nicht nur nicht, sondern bewies sogar neuerdings kränkende Absonderung und Überheblichkeit.

      Zwei Tage nach der blutigsten der drei Schlachten, die mehr als hundert Familien in Trauer gestürzt hatte, standen die in ihrer Tugend verwundeten Gruppen voll Entrüstung auf dem Altarplatz, als gebe es für diesen todumbrandeten Stamm keine wichtigere Sorge als die Schmach des Hauses Bagradian. Es waren nicht die ganz alten Frauen und auch nicht die ganz jungen, die den Ton dieser Entrüstung angaben, sondern jene matronenhafte Altersklasse zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig, die im Orient viel älter wirkt, als sie ist, und sich nur mehr an den Freuden der anderen und an übler Nachrede ergötzen darf. Die jungen Mädchen und Frauen waren ziemlich still und hörten mit nachdenklichen Mienen das Gekeife der Würdigen an. Sie hatten alle sehr blasse Gesichter, diese jungen Frauen. Ihnen bekam das Leben auf dem Damlajik am schlechtesten. Blutarm und verfallen sahen sie unter ihren Kopftüchern und Mützen aus. Die Armenierin, auch die der niederen Stände, ist zart und feingliedrig in ihrer Jugend. Angst, Leid, Entbehrung hatten die jugendlichen Frauen der Stadtmulde noch gebrechlicher gemodelt. Sie nickten ernsthaft zu den Schmähungen der Matronen und beteiligten sich dann und wann selbst mit einer Bemerkung an dem schwülen Schimpf. Dennoch konnten sie sich derzeit über eine ehebrecherische Frau nicht allzu aufrichtig entrüsten, wußten sie doch zu gut, was ihrer und aller armenischen Weiber wartete. Nicht der einfache Tod etwa, sondern der Tod durch Notzucht, wenn nicht etwa das große Glück lachte, daß ein reicher Türke sie den Saptiehs für seinen Harem abkaufte, wo sie dann damit zu rechnen hatte, von den alteingesessenen Frauen ins Jenseits gepeinigt zu werden.

      Die Fäden der moralischen Volksempörung hielt niemand andrer in der Hand als Frau Kebussjan. Nun war für sie die Stunde gekommen, der Schloßherrin von Yoghonoluk (die sich freilich immer gütig zu ihr benommen hatte) die Fülle der unbehaglichen Demütigungsgefühle während jener Empfangsabende heimzuzahlen. Und mehr als dies noch, die Stunde war für die Muchtarin gekommen, den Rang der Ersten Frau wiederzuerobern. Sie war so klug, sich nicht allein auf den unmittelbaren Anlaß der Entrüstung, auf die Ehesünde, zu beschränken, sondern sehr bald auf noch nahrhaftere Gebiete des Neides abzuschwenken. Da habe man nun die Wahrheit über die Hanum, die Französin, die hohe Herrin, die es wage, vor den Augen der Hungrigen das üppigste Leben zu führen. Sie, die Muchtarin, kenne sich in jenen luxuriösen Zelten aus, wohin man sie immer und immer wieder bis zum Überdruß einlade. Sie habe die Schränke, Koffer und Kisten des zuchtlosen Weibes mit staunenden, aber erbitterten Augen mehr als einmal geprüft. Von diesem Reichtum könne sich niemand einen Begriff machen. Unmengen von Reis, von Kaffee, von Rosinen, von Büchsenfleisch, von geräucherten und geölten Fischen, von allen Leckerbissen des Abendlandes seien in den Zelten aufgestapelt, Süßigkeiten ohne Ende, Konfekt, Schokolade, verzuckerte Früchte, und vor allem feines süßes Brot, zarter Zwieback und Kuchen. Die Milch der beiden Kühe werde sorgsam abgerahmt, damit für den Haushalt der Dame Butter und Sahne im Überfluß vorhanden sei, während sich das Bettelvolk in den wäßrigen Rest teilen dürfe. Man möge sich nur die prächtige Eigenküche ansehn, die der Verwalter Kristaphor mit dem Koch Howhannes aufgebaut habe. Ein Herd wie beim Sultan, mit Rosten und Röhren. Es fehle nur noch, daß die Pfannen, Häfen und Töpfe aus Gold und Silber seien. Sie, die Frau eines Kebussjan, habe in ihrer Kindheit auch nicht die Schafe gehütet, sondern die höhere Töchterschule besucht. Ihre Küchengerätschaft könne sich neben jeder anderen sehen lassen. Und doch, Kebussjan, der Reiche, und seine Frau, die es wahrhaftig nicht nötig hätten, unterhielten keine eigene Küche, sondern nähmen in Ergebung, was Gott beschere, von den Fleischbänken des Lagers entgegen, obgleich dem bescheidenen Muchtar mehr als der halbe Viehstand eigne. Die feine Gesellschaft der drei Zelte aber mit ihrem Überfluß, ihren Dienern und Schmarotzern, bestehle zu allem andern noch das Volksgut und lasse sich täglich die besten Fleischportionen, eigens ausgesucht, zu ihren Mahlzeiten holen.

      Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Küchennote auf die knurrenden Mägen der Männer ihre Wirkung ausübte. Sonst aber richtete sich ihre Empörung weniger gegen Juliette als gegen Gonzague Maris, den Unbekannten, den Einschleicher. Es fehlte nicht viel, und einige junge Burschen hätten sich zusammengetan, um Maris kaltzumachen. Besonnene versuchten diese Absicht zu zerreden. Doch wehe, wenn Gonzague sich in dieser Stunde hätte blicken lassen. – Als Ter Haigasun auf dem Platz erschien, trat ihm die Kebussjan dreist entgegen: »Priester! Du darfst es nicht straflos hinnehmen ...«

      Er wollte sie grob zur Seite schieben:

      »Kümmere dich um das Deine!«

      Sie vertrat ihm aber immer unverschämter den Weg:

      »Ich kümmere mich um das Meine, Priester! Habe ich nicht zwei unverheiratete Töchter und zwei Schwiegertöchter? Das weißt du ja. Und sind die Augen der Männer nicht gieriger als die der wilden Hunde und die Herzen der Weiber noch ärger? In den Hütten wohnt und schläft alles