Rasch hatte Sato die Ruheplätze, die Rhododendron- und Myrtenheimlichkeiten der Riviera heraus. Von Wonne überrieselt, zwängte sie ihr Gesicht leise durch das Zweigicht. Ihre geblendeten Augen tranken das Spektakel, das ihr die Götter gaben. Die erhabene Frau, Hanum aus dem Frankenlande, die Immer-Duftende, die Riesin, nun hing ihr das Haar halb aufgelöst herab, nun drängte sich die erloschene Fläche ihres Gesichtes mit dem breit schmachtenden Mund an das gemessene Gesicht des Mannes, der mit verhängtem Blick, und doch überwach, die Gabe erst kostete, ehe er sie ganz entgegennahm. Zitternd sah Sato die großen schmalen Hände Gonzagues, die wie die allwissenden Hände der blinden Tarspieler die weißen Schultern und Brüste der Hanum überspielten.
Sato sah, was zu sehen war. Sie sah aber auch, was nicht zu sehen war. Die Lehrer zwar hatten sie längst aufgegeben. In das lallende und ziellos bildernde Gehirn der Kreatur ließ sich nicht einmal das Alphabet und das Einmaleins stanzen. Nun wohl, Sato war zurückgeblieben, weil ihr überentwickelter Spür- und Fährtensinn alles geistige Vermögen geschluckt hatte. Hinter Myrten und Rhododendron verborgen, genoß sie nicht allein den brennenden Reiz des Schauspiels, sondern darüber hinaus die Zerrissenheit der Hanum und die Festigkeit Gonzagues. Ihr Verstand wußte nichts, ihre Witterung alles. Sato hätte keinen Grund gehabt, diese Voyeur-Wonnen vorzeitig abzukürzen, wäre nicht eine Verwirrung hinzugekommen, die sie in dem einzigen weichen Gefühle traf, das sie besaß. Ihrer Spürnase konnte das andere Paar nicht lange entzogen bleiben. Dieses Paar bot kein Schauspiel und besaß kein Versteck seiner Leidenschaft. Niemals verschwand es im labyrinthischen Buschgürtel der Meerseite, sondern bevorzugte die kahlen Kuppen und das leere Gewelle des Hochplateaus. Nur schwer konnte man die beiden verfolgen, ohne entdeckt zu werden. Doch Sato besaß zum Glück, oder richtiger zum Unglück, die Eigenschaft, sich unsichtbar machen zu können. Hierin war sie selbst Meister Haik überlegen. Dieses zweite Paar lenkte sie immer mehr von der süßen und ergebnisreichen Belauerung des ersten ab. Sie bekam freilich kaum einen Kuß zu sehen. Aber die Nichtküsse zwischen Gabriel und Iskuhi brannten sich tiefer in Sato ein als die vollkommenen Umarmungen Gonzagues und Juliettes. Wenn sie sich nur an der Hand faßten und kurz ansahen, um dann den Blick, wie erschüttert, rasch abzuwenden, so schien für Sato diese zarte Vereinigung restloser und aufreizender zu sein als die andre, völlig nahe. Vor allem aber war die Gemeinschaft Iskuhis und Gabriels hassenswert und stimmte Sato traurig. Ihre Erinnerung log die Vorzeit golden um. War die Waisenhauslehrerin von Zeitun nicht immer gut und gnädig zu Sato gewesen? Hatte sie nicht ausdrücklich oft »meine Sato« gesagt? Hatte sie nicht ihrer Sato gestattet, zu ihren Füßen auf der Erde zu sitzen und diese Füße zu streicheln und zu liebkosen? Wer anders als der Effendi war schuld daran, daß dieses köstliche Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung und Liebeserweisung ein hartes Ende genommen hatte? Wer anders als der Effendi war schuld daran, daß Iskuhi, wenn ihre Sato das verlangende Herz ihr entgegentrug, sie anherrschte: »Geh, Sato! Und laß dich nicht wieder blicken!«?
Trübsinnig suchte die Vagabundin einen Platz, um nachzudenken. Aber gerade das Denken und Planen war Satos Sache nicht. Sie konnte ja nur schweifende Bilder erzeugen und unter jähen und blitzschnellen Empfindungen zusammenzucken. Diese Bilder und Empfindungen brauchten aber gar nicht die Mitwirkung eines ordnenden Verstandes. Sie arbeiteten zielstrebig, so wie sie waren, sie knüpften Maschen, ließen sie fallen, nahmen sie wieder auf und brachten ein Gewebe der Rache zustande, von dem ihre Herrin so gut wie nichts wußte.
Juliette war auf dem Wege zu Gabriel.
Gabriel war auf dem Wege zu Juliette.
Sie begegneten einander zwischen Dreizeltplatz und Nordsattel.
»Ich bin auf dem Wege zu dir, Gabriel«, sagte sie. Und er wiederholte seinerseits dieses Sätzchen.
Die Verstörung und Verlorenheit, die seit undenklicher Zeit schon die Fremde gefangenhielt, hatte ihr Werk vollendet. Wo war Juliettens »funkelnder Schritt«? Sie ging wie eine, die irgendwohin geschickt ist. Und es war wirklich so. Gonzague hatte sie geschickt, damit sie endlich die Wahrheit sage und ihren Willen kundgebe, denn der Tag der Trennung war gekommen. Bin ich kurzsichtig geworden, dachte sie, ich sehe so schlecht. Sie wunderte sich, daß in dieser sommerlichen Nachmittagsstunde Novemberdämmerung herrsche. War es der Qualmschleier des Waldbrandes, der über dem Damlajik lag? War es jener andre sonderbare Qualmschleier über ihrem eigenen Bewußtsein, der sich seit Tagen verdichtete? Sie wunderte sich, daß Gonzague jetzt, da sie vor Gabriel stand, lächerlich unwirklich geworden war. Sie wunderte sich, daß dieser Gonzague sich mit ihr belasten wollte. Alles erschien ihr so weit entrückt und so verwunderlich. Ihr Strumpfband hatte sich gelöst und der Strumpf rutschte ihr über das Knie, ein Gefühl, das sie verabscheute. Und doch, sie rührte sich nicht. Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, mich zu bücken, ging es ihr durch den Sinn, und heute abend werde ich über die Felsen nach Suedja hinabklettern. Es kam dann zu einer recht merkwürdigen Unterredung zwischen den Gatten, die ganz und gar im Leeren verlief. Juliette begann:
»Ich mache mir Vorwürfe, daß ich in diesen Tagen nicht bei dir war ... Du hast Schweres erlebt und Großes vollbracht und warst immer in Gefahr ... Oh, ich benehme mich schändlich zu dir, mein Freund ...«
Ein derartiges Bekenntnis hätte Gabriel vor wenigen Wochen noch bewegt. Jetzt aber kam seine Gegenrede beinahe förmlich:
»Auch ich habe mir um deinetwillen Vorwürfe gemacht, Juliette. Ich sollte mich mehr um dich kümmern. Aber glaub mir, ich habe gerade jetzt gar nicht an dich denken können.«
Dies war eine große Wahrheit voll Doppelsinn. Sie hätte auch Juliette Mut zur Wahrheit machen müssen. Doch sie stimmte ihm nur eilig zu:
»Das ist ja selbstverständlich. Ich sehe ein, daß du an ganz andre Dinge zu denken hattest, Gabriel.«
Er bewegte sich auf diesem gefährlichen Wege weiter:
»Ich habe glücklicherweise immer gewußt und mich darüber gefreut, daß du nicht ganz allein und verloren bist.«
In dem stumpfen, gewissermaßen scheintoten Gespräch war damit ein Punkt erreicht, der den Blick nach allen Richtungen freiließ. Unglaublich schnell hätte für Juliette die Möglichkeit bestanden, offen zu sprechen: Ich bin die Fremde hier, Gabriel. Das armenische Schicksal war stärker als unsere Ehe. Jetzt zeigt sich ein allerletzter Ausweg für mich, diesem Schicksal zu entgehen. Du selbst hast es hundertmal gewollt und mir immer wieder den Antrag gestellt, mich zu retten. Ich hatte gehofft, daß ich die Kraft haben werde, bis zum Ende auszuhalten. Ich habe diese Kraft nicht, ich kann sie ja gar nicht haben, da dein Kampf nicht mein Kampf ist. Es ist schon sehr viel, glaub es mir, mein Freund, daß ich dieses verzweifelte Leben bis zu dieser Stunde ausgehalten habe. Nun aber ist es genug. Laß mich gehn! Denn ich gehöre nicht mehr dir, sondern einem andern. – Keines dieser einfachen und natürlichen Worte kam über Juliettens Lippen. Noch immer von dem eitlen Wahn erfüllt, in ihrer Ehe sei sie der gebende und höherstehende Teil, war sie überzeugt, daß Gabriel unter ihrem Geständnis zusammengebrochen wäre. Konnte sie annehmen, daß er ihr vielleicht mit gütiger Stimme geantwortet hätte: Ich verstehe dich, chérie. Selbst wenn ich daran zugrunde ginge, dürfte ich dich nicht zurückhalten. Ich werde für dich alles tun, was noch in meiner Macht steht. Ich werde mich um deinetwillen auch von Stephan trennen, den du retten wirst. Es ist gut so, daß ich als verantwortlicher Führer dieses Volkes die letzten Bindungen verliere, die mich an ein privates Leben knüpfen. Und noch eines, Juliette! Ich liebe dich und werde dich bis zum letzten Augenblick lieben, wenn ich auch nicht mehr dir gehöre, sondern einer andern. – So rein hätte sich in diesen Minuten alles durch Offenheit lösen lassen, wären die Dinge nicht zu verwickelt gewesen, um überhaupt gelöst zu werden. Juliette wußte von Gabriel ebensowenig wie er von ihr. Sie wußte aber auch nicht, ob sie Gonzague wirklich liebe. Und