SELM
»Himmel! wie ist der Geist der Gelehrten gesunken!«
»Er ist es nicht, denn beständig ist dies der Lauf der gelehrten Welt gewesen. Wenn sich jedermann polierte, jedermann sich scheute, dem andern etwas Unangenehmes zu sagen oder seine Schwachheiten und Fehler geradezu vor den Kopf zu stoßen, wenn jedermann es als eine Grobheit, einen Mangel an Lebensart tadelte, nicht mit Bescheidenheit und Schonung einem andern seine Versehen vorzuhalten – genug, wenn in allen Ständen Politesse herrschte, so war der Gelehrte die einzige Ausnahme davon.«
»Das wird Ihnen schwer zu beweisen sein!« sagte Selmann.
»Im geringsten nicht! – Sie kennen die gegenwärtigen Sitten unsrer Nation; Sie wissen, wie wenig sie ihren Nachbarn an Politur nachgeben darf, die sich an vielen Orten bis auf die geringsten Stände erstreckt; und sollten Sie wohl, wenn Sie unsre meisten Rezensionen läsen und die Nation, ohne sie zu kennen, darnach beurteilten – sollten Sie uns für etwas mehr als einen Haufen Irokesen halten? – Nicht Satire! Pasquill ist eine jede! in dem unverschämtesten, unanständigsten Tone! Ich habe feine erleuchtete Männer gekannt, die um dieser gegenseitigen Mißhandlungen willen die Gelehrten als eine Herde zänkischer Weiber betrachteten, die wie die Klopffechter öffentlich auftreten, um das Publikum zu belustigen, denen man also keine Ehre zugestehen kann, weil sie auf eine so verächtliche Art verschwendrisch damit umgehen.«
»Ich gebe Ihnen zu, daß Sie und diese Männer in Ansehung des großen Haufens Recht haben; ich habe selbst mit Ärger und Erstaunen dergleichen entehrende Urteile – wie sie genennt wurden – vor ein paar Tagen gelesen. Ich zitterte, ich glühte, als ich sie las. – Aber ein Mann, der Offenherzigkeit genug besitzt, einem Verfasser seine Fehler anzuzeigen, und Geschicklichkeit genug, dies ohne Verletzung der Politesse zu tun; der ohne Anmaßung von Unfehlbarkeit oder richterlicher Entscheidung mir seine Empfindungen bei meinem Werke und das daher gefloßne Urteil bekannt macht, ohne es für etwas mehr als für das einzelne Urteil eines Menschen angesehen wissen zu wollen – und alles dies aus Eifer für die Ehre und die Kultur der Nation, um gute Köpfe, die zu diesen Endzwecken arbeiten wollen, in ihren Bemühungen zu leiten, aufzumuntern und schlechte zurückzuhalten, doch ohne zu gebieten oder zu mißhandeln – sagen Sie mir, halten Sie einen solchen Rezensenten nicht für ein wichtiges Mitglied der gelehrten Republik? dessen Ehrensäule unmittelbar neben dem Monumente des Autors stehen sollte, den er durch seinen liebreichen freundschaftlichen Rat gebildet, der Nation gleichsam erzogen hat?«
»Ja, sagen Sie mir, wo ist ein solcher?«
»Ich habe deren gefunden; noch gestern las ich – und fand –«
Bei diesen Worten griff er in die Beinkleidertasche und erhaschte – eine fremde Hand – sah sich stillschweigend um und erblickte ihren Besitzer, der betäubt dastund und nicht wußte, ob er träumend oder wachend gehascht worden war. – »Was suchtest du hier?« fragte Selmann sehr gütig. – Die Antwort blieb außen. Sein Gesellschafter wiederholte die Frage in einem etwas hastigem Tone und faßte dabei den Delinquenten bei dem rechten Ohrzipfel. Er blieb ohne Bewegung. Man setzte das Verhör fort; er beharrte in seiner Stummheit. Selmann versprach ihm, aus seiner ehmaligen Begierde nach sonderbaren Menschen, acht Tage Unterhalt, wenn er ihm folgen wollte. Er tat es ohne Verzug, doch ohne seine Stimme mit einem Worte zu verraten.
20
Der Weg wurde augenblicklich nach Selmanns Behausung genommen, wo sie insgesamt glücklich ankamen.
Die Stoiker hatten gewiß Unrecht, sagt – ich weiß nicht, wer, daß sie mit ihren höhnischen quousque eadem? über die Einförmigkeit der menschlichen Begebenheiten sich beschwerten. – Ich sage das auch; wer Lust hat, sich zu verwundern, findet in dieser Welt vom Morgen bis zum Abend so viele Gelegenheit, sich zu verwundern, als aufgeräumte Lacher zu lachen; denn nur in diesem einzigen Absätze muß ich mich schon zweimal verwundern – und meine Leser mit mir! Was für eine Summe von Verwundrungen muß nach dieser Rechnung in einem so ansehnlichen Werke wie dies herauskommen? – Das mag Prospeer, der Bankier, berechnen! Große Summen ist mein Kopf ungewohnt.
Worüber ich mich aber wundre? – Ei, weiß denn noch niemand, daß die Hand, die Selmann auf dem Wege zu seiner Beinkleidertasche erwischte, die leibliche Hand – des jungen L. war! – je freilich! des jungen L., dessen Eintritt in die Welt und nachfolgende wunderbare Schicksale die Welt im ersten Bande gelesen hat – und die Nachwelt lesen wird.
Also ist alles alltäglich in dieser Welt – qui a vécu un jour, a vécu un siècle – und doch vieles unerwartet, neu, überraschend. Hätten die Stoiker, die den Lauf der Welt so langweilig fanden, nur meinen Tobias Knaut lesen können! Was gilt's? Sie wären nicht Stoiker genug gewesen, um sich hier nicht zu verwundern, wie der junge L. so plötzlich auf das Theater kömmt.
Sein eigner mündlicher Bericht, den er Selmannen nach dem Abendessen abstattete, meldet so viel: daß er eigentlich nach der Bestimmung seines Vormundes und der übrigen Familie auf diesen Musensitz gesendet worden sei, um sich mit Studieren, Büchern und andern landverderblichen Übeln, womit eigensinnige Aufseher ihren Untergebnen die Freuden dieses Lebens verbittern, den Kopf und Magen zu schwächen; daß er es aber für seine Person sehr unzuträglich und töricht finde, sich mit philosophischen Schwärmereien oder juristischem Wörterplunder sein Gehirn zu besudeln, das sich bisher so rein und unbefleckt als im Mutterleibe erhalten hätte; daß er demnach ohne die unnötige Zuziehung seines Vormundes sich einen eignen Plan entworfen und ausgeführt habe, der ihm das akademische Jammertal zu einem Paradiese machte.
»Und welcher ist das?« fragte Selmann neugierig.
Er beichtete mit einer Offenherzigkeit, die man nur der Unschuld zutrauen sollte, ohne sich im mindsten zu schämen, daß sein Beruf gegenwärtig sei, dem verächtlichsten Teile des schönen Geschlechts tägliche Aufwartungen zu machen, zu spielen, zu singen, zu trinken und – hier wurde er rot und verstummte. – »Und was?« rief Selmann. – Der junge L. fiel auf die Knie, beschwor ihn bei seinem Wappen und Stammbaume und ließ sich von ihm bei seinem Wort und Ehre versprechen, daß das ein ewiges Geheimnis bleiben sollte, was er ihm itzt anvertrauen würde.
»Um des Himmels willen, was ist das?«
»Ich –« mit niedergeschlagnen Augen sagte er das – »ich – sammle Uhren und Geldbeutel.«
»Sie stehlen! Wie kommen Sie dazu!« – Auf diese Frage meldete er ihm, daß seine Gesellschaft aus einem Truppe junger und alter Leute bestünde, die wie er den Vorsatz hätten, die Freuden dieser Welt zu genießen; daß man ohne Geld dieses nicht bewerkstelligen könne, welches doch niemand in der Gesellschaft außer ihm besäße; daß man ihn also, als das wenige, was ihm sein geiziger Vormund gegeben, gemeinschaftlich vertan gewesen wäre, dazu angewiesen habe, Uhren und Geldbeutel zu sammeln, um sich auf fremde Unkosten lustig zu machen. – Bei dem Schlusse dieses Berichtes erfolgte eine abermalige flehentliche Bitte, nichts davon zu seiner Schande zu offenbaren, sondern der Ehre seines Standes zu schonen.
»Ja, nicht ein Wort soll über meine Zunge kommen«, sagte Selmann, »wenn Sie mir versprechen, künftig unter meiner Aufsicht zu leben und mich zu Ihrem Rentmeister zu machen!« – Er versprach es.
»Fürchteten Sie die Vorwürfe Ihres Gewissens nicht, da Sie sich zu einem solchen Gewerbe erniedrigten?« – Er sah ihn starr an.
»Hielt Sie die Ehre Ihres Standes nicht zurück?« – Er zuckte die Achseln und beteuerte, daß ihm diese mitten unter der Freude unruhige Augenblicke gemacht,