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Da sie an einer Tafel mit dem großen Sophronius speisten, so suchte Selmann sich die Gelegenheit zunutze zu machen und sich an den Reden seines Wirtes zu weiden. Er brachte deswegen meistens das Gespräch auf philosophische Materien, worüber jener wie ein befragtes Orakel seine endliche Entscheidung gab, ob man gleich nur seine Meinung verlangte. Anfangs war die Hochachtung gegen diesen positiven Mann zu lodernd, zu heftig, als daß Selmann es hätte wagen oder sich erlauben können, seinen Aussprüchen nur einen anscheinenden Zweifel entgegenzusetzen; doch in der Länge fühlte er etwas Unbehagliches in den Unterredungen mit ihm, die Flamme der Hochachtung und der Ehrfurcht wurde immer schwächer, bis er zuletzt mit ihm wie mit einem jeden fehlbaren Menschenkinde sprach. Diese Änderung des Tons machte den großen Sophronius stutzig, und so bescheiden und höflich jener seine Zweifel vortrug, so war doch dieser schon beleidigt, daß er sie vortrug. Er wußte nicht, wie er sich in die vorige gefürchtete Unfehlbarkeit zurücksetzen sollte, welches doch für ihn unumgänglich notwendig war, wenn ihm nicht Selmanns Umgang zur Last fallen sollte. Er ergriff die höchst schlechte Partie und verstärkte seinen Ton und Ausdruck, sobald sich sein Tischgenosse mit einem Zweifel hervorwagte; er tat wie Leute, die die Überlegenheit des Feindes fühlen, einen Schreckschuß, um ihn wenigstens auf einige Zeit furchtsam zu machen; aus diesen Schreckschüssen wurden allmählich wirkliche Kanonaden von Widerlegungen oder vielmehr positiven Verneinungen, die jeder andrer als Selmann für Unhöflichkeiten angesehn und als solche geahndet hätte. Doch man weiß schon seinen Grundsatz über den Wert der menschlichen Gewißheit und die Duldsamkeit, die ihm derselbe eingeflößt hatte; wenn es ihn also auf der einen Seite befremden mußte, daß ein Sterblicher so verwegen entscheiden konnte oder seine Eigenliebe über die unhöflichen Widersprüche ungehalten war, so drückte auf der andern jene friedsame Toleranz den Unwillen sogleich nieder.
Die Eigenliebe, fällt mir bei dieser Gelegenheit ein, ist ein gutes Weibchen, man sage von ihr, was man will; sie ist wie die Gattung von Weibern, die böse oder gut – kurz, das sind, wozu sie ihre Männer machen. Wenn die Eigenliebe, das heißt, das eigne Gefühl unsrer Kräfte und Vollkommenheiten, mit einem sanften Temperamente verbunden ist, so wird sie ein duldsames friedfertiges Geschöpf; wo es aber die Gefährtin eines unruhigen Blutes ist, da wird sie zum zänkischen Weibe. In dem ersten Falle gab ich die Toleranz gegen die von den unsrigen verschiedene Meinungen für einen Abkömmling der Eigenliebe aus; sie ist es auch im Grunde, oder vielmehr die Eigenliebe selbst, ein verfeinerter Stolz. Entweder dulden wir andrer Meinungen, weil wir von dem Werte unsrer eignen so vorteilhafte Begriffe haben, daß wir dafür halten, es könne ihnen durch den Gegensatz der andern nichts benommen werden, oder wir dulden sie, um zu gefallen, um dieselbe Gefälligkeit für die unsrigen dadurch zu erkaufen – andre Ursachen, die von Menschenfurcht, Ohnmacht und dergleichen entstehen, rechne ich nicht hieher. – Selmann hielt gewiß, nachdem seine Bezauberung von dem Sophronius gemindert war, seine eignen Meinungen für besser als dieses Mannes seine; denn sonst hätte er wider alle Regeln des menschlichen Tun und Lassens gehandelt, wenn er ihnen seinen Beifall eine Minute gegeben hätte, und eben darum, weil er sie für Wahrheit hielt, duldete er die entgegengesetzten des Sophronius – einer von den Hauptwidersprüchen der menschlichen Natur! Niemand kann einer Meinung seinen Beifall geben, wenn er sie nicht für wahrer hält als alle andre, und gleichwohl muß er, um tolerant zu sein, keine für ausgemacht wahr halten.
Eine solche feine Wendung der Eigenliebe war es bei Selmannen, die ihn so gleichgültig den Widerspruch ertragen ließ; denn hinter jeder Abweichung des Sophronius von ihm folgte eine Art von innerlichem Bedauern oder Verachtung, welches soviel hieß als: Ich weiß es besser! – und bei diesem blieb das nicht bloß ein innerlicher Ausruf, sondern drängte sich bis über seine Lippen. Bei Selmannen war die Eigenliebe ein gefälliges, nachgebendes Weibchen, bei Sophronius ein zänkisches, ungestümes Weib.
Eines Tages führte sie das Tischgespräch auf die Gewißheit der menschlichen Erkenntnis, Selmanns Lieblingsmaterie! Er trug fast die nämlichen Gründe vor und erklärte die menschliche Gewißheit auf die nämliche Art, wie er sie einst in einem Gasthofe einem Manne in braunem Rocke und schwarzer Weste erklärte, der alle Gründe zugab und doch nichts glauben wollte, was sie bewiesen. Sophronius glühte, als er merkte, daß der Mann, der mit ihm aus einer Schüssel aß, so ein Erzketzer war, der ihm sogar alle Gewißheit und Unfehlbarkeit absprechen wollte; seine kleinen lichtgrauen Augen zogen sich in ihrem Mittelpunkt zusammen wie eine Schlange, die sich zusammenwindet, um sich auf ihren Feind loszuschnellen; die ansehnliche Nase schwoll zu einer kolossalischen Größe empor; die Lippen waren in einer unaufhörlichen wellenförmigen Bewegung wie ein kochendes Wasser, der ganze Leib vorwärts gebeugt und in der Stellung, als wenn er auffliegen wollte. Unter diesen fürchterlichen Aspekten war Selmann, ohne sie zu merken, dahin gekommen, daß er den Schluß machte: bei einer solchen Gewißheit sei ein weiser Skeptizismus die einzige Partie, die ein verständiger Mann erwählen könne. – »Nicht jeder Zweifler«, setzte er hinzu, »ist darum, weil er zweifelt, ein Weiser! Der Skeptizismus entsteht aus zwei Extremen: Entweder ist unser Genie so wirksam, daß wir jede Seite eines Gegenstandes gleich deutlich, gleich lebhaft zugleich übersehn, oder es ist so schwach, daß wir eine jede nur einzeln und nach und nach erblicken, ohne sie jemals alle oder doch die vorzüglichsten zusammen zu übersehen; in beiden Fällen müssen wir gleich unentschlossen sein, welche Seite des betrachteten Gegenstandes wir für die wahre halten sollen. – In dem ersten finden wir, daß eine Sache, unter verschiedenen Gesichtspunkten gesehen, verschieden erscheinen muß und also unter den Arten, wie sie erscheint, keine vor der andern wahr oder falsch sein kann – man zieht also keine vor, man zweifelt. Geben Sie mir das zu?«
Sophronius antwortete, aber der Ton war so zweideutig und unverständlich, daß man nicht wußte, ob man es als ein Ja oder Nein auslegen sollte. In dieser Ungewißheit schlug sich seine Ehegattin ins Mittel, und weil sie wußte, daß die Veränderungen in ihres Manns Gesichte Vorherbedeutungen von einem nahen Ausbruche seines Zorns waren und doch sich eine Menge Ursachen denken ließen, warum sie seinen Ungestüm von Selmannen zurückhalten mußte – da er gar aus dem Hause und von ihrer Kost hätte ziehen können –, so rief sie im Namen ihres Mannes ein vernehmliches Ja aus.
Sophronius knirschte.
»Ebenso leicht«, fuhr Selmann fort, »werden Sie mir auch zugeben, daß in dem zweiten Falle derjenige, dem die verschiedenen Seiten eines Gegenstandes nur einzeln, nach und nach und insgesamt in schwachem Lichte erscheinen, sich in den Umständen eines Mannes von blödem Gesichte befindet, der die Personen bloß nach den Kleidern unterscheidet; erschiene ihm jede Stunde eine Person von Ferne in einem andern Kleide, so würde er nie wissen, ob es dieselbe wäre; er würde Ähnlichkeit finden und auch keine; er zweifelte. Ist dieses nicht wahr?«
Sophronius schwieg und schien ruhiger zu sein; doch seine Frau wiederholte, um desto gewisser zu gehn, die vorige Bejahung.
SELM
»Jener ist der Skeptizismus des großen Genies, dieser des kleinen; jener macht tolerant, dieser so unduldsam als eingebildete Unfehlbarkeit; jenes ist der wahre Skeptizismus, den ich für die wohltätigste Beschaffenheit –«
Bei dem Worte Skeptizismus entbrannte Sophronius von neuem; ohne die Rede vollenden zu lassen und ehe seine Frau mit ihrem Ja dazwischenkommen konnte,