Es war ganz wie am ersten Tag, als er sie kennengelernt hatte. Auch damals war die unendliche Ruhe der Natur um sie gewesen.
Wie hübsch sie aussieht, wenn sie schläft, stellte Sörensen fest. Seine Eifersucht, die er noch vor wenigen Minuten so heftig gespürt hatte, legte sich. Wenn er sie anblickte, war er beinahe der Überzeugung, daß dieses Mädel niemals leichtfertige Bekanntschaften schloß. Womöglich hatte es wirklich nichts weiter auf sich gehabt, daß sie heute nacht so ausgelassen mit den Bauernburschen umhergewirbelt war. Die hatten doch meist ihre Mädel und waren gar nicht so sehr darauf aus, einer Stadtdame den Kopf zu verdrehen.
Nein, es hatte sich wirklich nichts ereignet, das ihn berechtigte, sie für leichtsinnig zu halten.
Sörensen hatte sein Rad an einen Baum gestellt. Jetzt setzte er sich in gebührender Entfernung an das Ufer und wartete.
Minuten vergingen, für Sörensen waren es köstliche Minuten. Beinahe wünschte er, daß Inge nicht so schnell aufwachen möge. Er fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem sie ihn erkannte. Konnte es nicht sein, daß sie ihn kühl und abweisend behandelte? Noch war er voll hoffnungsfroher Erwartung. Und dann? Wenn sie endlich miteinander sprachen?
Vielleicht mußte er dann erkennen, daß sie ihm niemals das sein konnte, was er sich erträumte!
Eberhard Sörensen blickte auf den See hinaus. Ein Wildentenpaar stieg dort auf und strich mit lautem Flügelschlag über ihn hinweg.
Es ging auf den Abend zu. Noch einmal begannen die Vögel des Waldes aus vollen Kehlen zu singen. Ein frischer Wind kam auf und ließ die Wipfel der Bäume aufrauschen.
Inge mußte den Luftzug spüren. Wachte sie jetzt auf?
Sörensen blickte nicht hin. Wenn sie die Augen öffnete, sollte sie nicht das Gefühl haben, die ganze Zeit über betrachtet worden zu sein.
Er nahm sich eine Zigarette aus dem Etui und zündete sie umständlich an. Als er dann schließlich doch wieder zu Inge hinübersah, hatte sie sich aufgerichtet und blickte mit ungläubigen, verwunderten Augen zu ihm hinüber.
Sie mußte wohl schon eine ganze Weile sitzen.
Lange blickten sie sich an, dann warf Sörensen seine Zigarette in das Wasser.
»Ihre Überraschung ist berechtigt, wir haben uns lange nicht gesehen, nicht wahr?« fragte er und stand auf.
Langsam ging er auf sie zu.
»Wie kommen Sie hierher?« fragte Inge, und ihre Stimme hatte einen merkwürdig heiseren Klang.
»Mit dem Fahrrad, wie Sie«, lächelte Sörensen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Inge antwortete nicht. Der erstaunte Ausdruck in ihren Augen blieb. Sörensen jedoch hatte das Empfinden, daß sich dazu mehr und mehr ein mißtrauisches Glitzern gesellte.
Aber auch eine große Freude war da, und das machte ihn froh. Er stand jetzt dicht vor ihr.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte er abermals.
Inge nickte. Und dann fragte auch sie erneut: »Wie kommen Sie hierher? Es kann kein Zufall sein. Einen so großen Zufall gibt es doch nicht.«
Sörensen setzte sich dicht neben sie. Ein frischer Geruch von Wald, Wasser und Sonne strömte ihm aus Inges blondem Haar entgegen, das, halb getrocknet, das frische liebe Gesicht einrahmte.
»Sie haben recht. Es ist kein Zufall. Wenigstens nicht, daß ich jetzt hier neben Ihnen sitzen darf«, antwortete Sörensen, kam jedoch plötzlich zu dem Entschluß, ihr nicht alles zu sagen. Nein, sie sollte jetzt noch nicht erfahren, daß er ihr nachgereist war. Er brachte es nicht fertig, ihr dies sofort zu gestehen. »Entsinnen Sie sich an die beiden Reiter, denen Sie vorhin begegneten?« sprach er weiter.
Inge hob den Kopf und sah ihn voll an. »Ja! Einer der Herren grüßte so freundlich, ich kannte ihn nicht.«
»Es war mein Freund, Axel von Dörendorf«, erklärte Sörensen, »ein alter Schulkamerad von mir. Dörendorf gehört Gut Birkenhöhe, das kennen Sie sicher, nicht wahr?«
»Ich bin in der Woche, die ich hier bin, noch nicht weit herumgekommen, aber meine Tante erzählte mir davon.«
»Der andere Reiter war ich!«
»Sie?«
»Ja, ich, Eberhard Sörensen. Nun wissen Sie auch meinen Namen. Ich habe sehr oft in der Zwischenzeit an die Stunden gedacht, die wir, jeder für sich und doch wieder gemeinsam, an dem kleinen Flußufer verbrachten. Stets habe ich dann bedauert, daß wir nicht näher miteinander bekannt geworden sind. Darf ich nun auch Ihren Namen erfahren?«
Sörensen mußte bei dieser Frage für einen Augenblick das Gesicht abwenden. War sie nicht eine Lüge, diese Frage? Mußte er Inge nicht sagen, daß er bei ihrer Mutter zu Gast gewesen war? Er kannte sie doch längst und wußte viel mehr von ihr, als sie jemals annehmen konnte. Wenn sein Gefühl ihr gegenüber wirklich so stark war, dann durfte er keine Winkelzüge machen. Aber es war zu spät, die Frage war gefallen. Und war es nicht auch besser so? Er hatte ihre Mutter kennengelernt, hatte Inge gestern abend im Dorfkrug gesehen. Er war nicht mehr so jung und unerfahren, um sich vorbehaltlos einer Frau nähern zu können. Ja, vor zehn Jahren noch! Da hätte er einfach darauflos gesprochen, hätte ihr offen seine Liebe erklärt. Heute war das anders. Er fürchtete, sie damit zurückzustoßen, sie war ja noch so jung!
»Mein Name ist Inge Gräfenhan. Ich bin hier bei einer Tante zu Besuch. Aber sprachen wir nicht davon, daß es kein Zufall gewesen ist, der Sie hierher führte?«
»Richtig, Fräulein Gräfenhan, das muß ich noch erklären. Ich erkannte Sie sofort, als Sie mit dem Rad auf uns zukamen. Ich wußte jedoch nicht, ob Sie sich Ihrerseits noch an unsere kurze Bekanntschaft erinnern würden. Da bin ich zunächst einmal an der Seite meines Freundes geblieben. Na, und nun bin ich hier.«
Inge lachte: »Das sehe ich.«
»Waren Sie sehr erschrocken, als Sie mich plötzlich erblickten?«
»Etwas schon.«
Inge fühlte, daß ihr Herz schneller klopfte. Er war ihr nachgefahren. Wenn er das auch eben verschwiegen hatte. Also hatte auch er sie nicht vergessen. Wie war doch sein Name? Eberhard Sörensen. Ein schöner Name war es!
»Ich war sehr traurig, als Sie plötzlich nicht mehr an den Fluß kamen«, gestand er. Mit leuchtenden Augen sah Inge ihn an.
»Waren Sie das wirklich? Und warum eigentlich?«
Sörensen blickte in zwei tiefblaue Augensterne. Er glaubte, so klare, strahlende Augen noch niemals gesehen zu haben. Wie verwirrend Inge fragen konnte! Was sollte er darauf antworten?
Es gab nur eine Antwort! Er spürte es deutlicher denn je, wie sehr er sie liebte, mit der ganzen Kraft seines Herzens.
Inge war aufgestanden. Wie hatte sie nur eben so fragen können! Hastig strich sie sich das Haar zurecht. Waren mit dieser Frage nicht all ihre Gedanken offen zutage getreten? Was sollte er von ihr denken? Oberhaupt, sie mußte jetzt nach Hause, ganz schnell mußte sie nach Hause, die Tante würde schon auf sie warten. Und doch, sie wollte dieses Wiedersehen, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, als etwas Unbedeutendes erscheinen lassen. Das war es doch nicht, nein, das war es nicht.
Wenn sie sich nun voneinander verabschiedeten, würden sie sich dann abermals begegnen?
Inge spürte einen heftigen Stich, wenn sie daran dachte, daß sie Eberhard Sörensen vielleicht niemals wiedersehen würde. Er bedeutete ihr schon heute so viel.
»Müssen Sie schon nach Hause?« fragte Sörensen enttäuscht, der ebenfalls aufgestanden war.
Inge sah ihn gequält an. Sie mußte nach Hause und konnte sich doch nicht von ihm trennen.
»Begleiten Sie mich ein Stück?« fragte sie leise.