Scheinheilig fragte er: »Sind Sie Wyatt Earp?« Er wußte genau, daß er einen anderen, einen um einen halben Kopf kleineren und etwas schmächtigeren Mann vor sich hatte. Die Riesengestalt des Marshals hätte er in größerer Dunkelheit und unter Hunderten sofort herausgefunden.
Der Deputy lachte wieder. »No, Mister, leider nicht. Ich bin Bill Tilghman. Wenn Sie den Marshal sehen wollen, dann müssen Sie sich ein paar Tage gedulden…«
Halbot erschrak.
»… aber wenn Sie im Dodge House wohnen, können Sie es ja aushalten.«
»Er ist nicht in der Stadt?« erkundigte sich der entsprungene Sträfling lauernd.
»Nein.«
Tilghman schob sich eine Zigarre zwischen die Zähne und riß ein Zündholz an.
Halbot blickte den Mann an. Auch er rauchte schwarze Zigarren, wie sein Boß. Höchstwahrscheinlich rauchten sie alle schwarze Zigarren, da drinnen im Office. Höchstwahrscheinlich ritten alle auf Falbpferden und trugen schwarze Anzüge – genau wie ihr Boß.
Halbot ahnte nicht, welch einen Unsinn er da zusammenbraute. Die Männer um den Marshal herum waren alle durchweg vernünftige, kluge und in keiner Weise verschrobene Leute.
Tilghman rieb sich das Kinn und meinte: »Klopfen Sie an die Tür, die sich an der linken Hausseite befindet, drüben im Dodge-House, da öffnet Ihnen immer jemand.« Halbot nickte. Plötzlich rutschte ihm die Frage über die Lippen: »Und Doc Holliday – ist er auch nicht in der Stadt?«
Der Deputy lachte leise. »Nein, er ist auch nicht hier. Unsere lebenden Sehenswürdigkeiten sind unterwegs. Aber wenn Sie etwas Geduld haben, kriegen Sie zumindest den Marshal noch zum Wochenende zu sehen.«
Der genügt mir auch vollauf! dachte der Verbrecher und zog sich in den Sattel.
Nach einem kurzen Gruß ritt er davon.
Im Dodge-House-Hotel öffnete ihm an der von dem Deputy bezeichneten Tür ein kleiner gebeugter Mann. Er hielt eine Kerosinlampe in der Hand und ließ den Lichtschein auf den Draußenstehenden fallen.
»Sie wünschen?«
»Ich suche ein Zimmer.«
Er bekam ein Zimmer im Obergeschoß und auf seinen Wunsch sogar mit Blick auf die Frontstreet.
Jake Halbot schlief ruhelos und schlecht in der ersten Nacht, die er seit langem wieder in einem Bett verbrachte. Er hatte im Traum mit einem Giganten zu kämpfen und erwachte schließlich schweißgebadet, als die Sonne schon in sein Fenster blinzelte.
Halbot sprang sofort auf und blickte durch die Gardinen auf die Straße hinunter.
Die Menschen gingen ihrem Tagewerk nach. Es war eine aufstrebende Stadt, die den Ehrgeiz hatte, einmal als ruhig und geordnet zu gelten.
Jake Halbot hatte den Nerv eines Höhlenbewohners. Er wusch sich, kleidete sich an und verließ sein Zimmer.
Unten in der Halle nahm er sein Frühstück ein. Er unterhielt sich sogar mit dem Hotelowner. Dann ging er hinaus.
Ein paar Häuser weiter die Straße hinauf, in Hoovers Shop, kaufte er sich ein paar Zigarren und zündete sich eine an. Dann schlenderte er weiter die Straße hoch.
Schließlich stand er vorm Long Branch Saloon und blickte durch die Scheiben ins Innere der Schenke. Gerade überlegte er, ob er hineingehen sollte, als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte. Halbot war so erschrocken, daß er sich nur langsam umzudrehen vermochte.
Er sah in die Augen des Deputys, den er in der Nacht drüben im Office gesehen und mit Wyatt Earp verwechselt hatte.
»Kommen Sie bitte mit ins Office«, hörte er den Sternträger sagen.
Im Hirn des Verbrechers war augenblicklich eine dumpfe Leere. Er starrte in das Gesicht des Hilfs-Marshals und rührte sich nicht vom Fleck.
Dann fand er in die Wirklichkeit zurück.
Heavens! Drüben vor dem Office sah er den bulligen Mann mit dem Stern stehen, und links neben der Tür lehnte ein strohblonder, kleinerer Bursche, der auch einen Stern trug.
Es ist aus! hämmerte es im Schädel des entsprungenen Sträflings. Sie haben mich erkannt! Er öffnete den Mund und stieß heiser hervor: »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Earp!«
Halbot fühlte einen Stich, der ihm bis in die Nerven schnitt. »Earp?« kam es rostig über seine Lippen.
»Yeah, Morgan Earp. Kommen Sie mit ins Office!«
Das Gesicht des Banditen wurde aschgrau. Der Kopf sank ihm auf die Brust.
Da war er also, der entscheidende Moment – und er hatte versagt.
Weil sie ihn überrascht hatten, weil alles ganz anders gekommen war, als er es sich vorgestellt hatte. Das hatte ihn aus dem Gleichgewicht geworfen. Ich muß mich wehren! – Das war alles, was er denken konnte.
Aber er unternahm nichts, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Im Gegenteil, mit gesenktem Kopf schlenderte er vor dem Deputy her vom Vorbau des Saloons hinunter auf die Straße.
Ich muß mich wehren. Sie schleppen mich ins Jail, und der Marshal wird mich todsicher wieder nach Sescattewa in die Hölle bringen lassen.
So war es nun für ihn in Dodge abgelaufen. Alles war umsonst gewesen, alles. Die fürchterliche Flucht durch die Wand und über den Fels, die Hetze durch die unwegsamen Täler der Mountains. Sein Überfall auf den alten Fallensteller – bei diesem Gedanken, der da plötzlich durch seinen Schädel kroch, erschauerte der Verbrecher.
Sie werden mich nicht mehr nach Sescattewa bringen. Sie werden mich auf den Dodger Galgenhügel schleppen und hängen. Weil ich den Fallensteller niedergeschossen habe.
Langsam überquerten sie die Straße.
Es schien für den Texaner ein endloser Weg zu sein, hinüber in Wyatt Earps Office.
Wie mochten sie es entdeckt haben?
Durch die Leute im Hotel?
Ausgeschlossen.
Da hatte er sich als Reginald Jefferson aus Oklahoma eingetragen.
Er war niemandem im Dodge-House während seines kurzen Aufenthaltes begegnet, der ihn mißtrauisch angesehen hatte.
Ob Bill Tilghman ihn erkannt hatte?
By Gosh, dann konnte dieser Bursche sich besser verstellen als ein mexikanischer Händler.
Wie weit doch der Weg über die Straße war.
Wie unendlich weit doch fünfundzwanzig oder dreißig Yards sein konnten.
Dann waren sie drüben. Morgan Earp steuerte direkt auf den Eingang des Büros zu.
Halbot ging langsamer. Der Deputy war jetzt direkt neben ihm.
Rechts stand der bullige Schnauzbart, der ihn nur mit einem kurzen Blick gestreift hatte.
Auch der blonde Bursche mit dem Stern hatte ihn nur flüchtig gemustert und dann wieder auf die Straße gesehen.
Damned! waren die Kerle abgebrüht.
Der rechte Unterarm des Verbrechers berührte in diesem Augenblick etwas Hartes an der Hüfte: den Revolverkolben.
Wie ein Blitz zündete es im Hirn des Mörders: Der Revolver! Teufel, ich habe ja noch den Revolver. Well, ich werde nicht kampflos untergehen. Wenigstens einen von diesem Gesindel werde ich mitnehmen.
Morgan Earp blieb stehen, weil auch der Texaner plötzlich kurz vor der Tür stehengeblieben war.
Hinter der Stirn des Verbrechers herrschte jetzt Eiseskälte.
Er rechnete sich seine Lage aus.