Er sah sich um. Dann nahm er den Kopf hoch und blinzelte zu Halbot hinauf. »He, da steckst du ja noch! Komm runter!«
Halbot schluckte, dann sprang er auf und flog über die schroffe Kante nach unten. Genau dahin, wo Shack am Boden kauerte.
Der Grauhaarige hatte sich augenblicklich herumgeworfen und fing ihn auf. Dadurch war sein eigener Schädel hart auf den Stein zurückgeschlagen. So hart, daß Shack einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte.
Der Texaner selbst war glatt davongekommen. Nicht eine Schramme hatte er sich bei dem Sprung in die Tiefe geholt.
Shack hatte hinten am Schädel eine Platzwunde. In seinem silbergrauen Haar zog sich eine Blutspur zu dem braunen, gefurchten Nacken.
Der Sträfling riß sich ein Stück Stoff aus seinem Hemd und preßte es auf den Hinterkopf.
Aber er war ein harter Mann, dieser Lebenslängliche. Er richtete sich schneller wieder auf, als Halbot es vermutet hatte, humpelte vorwärts auf die schräge Bergwand zu, hatte die Linke mit dem Stoffetzen auf den Hinterkopf gepreßt und musterte die Schründe und Klüfte des Berges.
Shack fand einen Kletterpfad, und wenn sie sich eng an den Fels anlehnten, einzelne gefährliche Passagen abrechneten, kamen sie hier rasch weiter.
Aber nicht höher.
Und dann hielt der vorangehende Shack jäh an.
»Was ist los?« fragte Halbot erschrocken.
Der Grauhaarige deutete nach vorn in die Tiefe.
Halbot schob sich heran und suchte einen Blick über seine Schulter zu werfen.
Sofort zuckte er wieder zurück.
Tief unten in der Talsohle, eingeschlossen in hohe Bergwände, lag das Camp. Das höllische Straflager der Lebenslänglichen.
»Sescattewa«, kam es tonlos über die Lippen Shacks.
»Yeah«, preßte Halbot durch die Zähne, »wir müssen zurück.«
»Zurück? Ich gehe keinen Yard zurück. Wir müssen in die Kluft, die wir gerade passiert haben, versuchen, höher zu kommen.«
Sie wandten sich zurück.
Die Kluft war fast zwei Yards breit und erlaubte es somit nicht, daß die Flüchtlinge sie so durchstiegen, wie sie es im ›Kamin‹ geschafft hatten.
Ihre schroffen, rissigen Wände ermöglichten jedoch einen Kletteraufstieg.
Die beiden Männer kämpften sich hoch und höher.
Plötzlich war die Kluft zu Ende.
Shack zerrte sich mit einem Klimmzug am Rand hoch und zuckte zurück.
Halbot starrte zu ihm hinauf. »Ich kann mich nicht mehr halten, Mensch – mach daß du weiterkommst!« fluchte er den Grauhaarigen an.
»Ausgeschlossen! Es ist eine Spitze, die steil nach unten fällt.«
Sekundenlang hingen die beiden Ausgebrochenen ratlos in der Kluft.
Dann hangelte sich Shack weiter nach links, und nach einer Weile gelang ihm an einer anderen Stelle ein neuer Klimmzug.
Halbot folgte.
Sie standen auf einem glücklicherweise nicht abfallenden Podest – vor einer riesigen Felsbastion, die turmhoch in den Himmel stieg.
Keuchend starrten die beiden Männer an ihr hinauf.
»Das ist das Ende«, ächzte Halbot.
»Wir müssen hinauf«, stieß der ehemalige Bankräuber hervor.
Sie rasteten eine halbe Stunde und kletterten dann weiter.
Diesmal stieg Halbot voran.
Shack folgte ihm.
Diese Partie sollte alles bisher überstandene noch übertreffen. Es war fürchterlich. Nur Zoll für Zoll zerrten sich die beiden ausgepumpten Männer an dem Gestein hoch.
Die Sonne brannte ihnen auf die schmerzenden Rücken.
Keuchend, ächzend und völlig erschöpft arbeiteten sich die beiden Verbrecher dem Gipfel entgegen.
Plötzlich rutschte Shacks rechter Fuß ab.
Der Grauhaarige krampfte sich instinktiv in Halbots Bein.
Entsetzt blickte der Texaner nach unten.
Sein Gesicht verzerrte sich vor Todesangst. Und dann geschah es: Er schüttelte, ohne wirklich in Not zu sein, den haltsuchenden Gefährten, der ihn dreimal gerettet hatte, ab.
Mit einem gellenden Schrei stürzte Steve Shack in die Tiefe.
Der Texaner sah seinen Körper auf spitze Felsvorsprünge aufschlagen, sich überschlagen – und weiter in den grauen Abgrund stürzen.
*
Jake Halbot schloß die Augen und krallte sich in den Fels.
Erst nach endlosen Minuten zerrte er sich weiter hoch.
Am Nachmittag fiel er in einer Nische erschöpft nieder und sank bald in einen totenähnlichen Schlaf, aus dem er erst Stunden später erwachte.
Drüben im Westen sank die Sonne bereits über den blauen Berggipfeln.
Feiner Steinstaub rieselte auf das von zahllosen Rissen und Schrammen völlig entstellte Gesicht des flüchtigen Sträflings nieder.
Er blickte hoch und sah in ein scharfes, schwefelgelbes Augenpaar.
Halbot war wie gelähmt vor Schreck.
Etwa sieben Yards über ihm saß ein grauer Riesenvogel auf einer Felszacke und starrte ihn böse aus glimmenden Augen an.
Endlich löste sich der Krampf von dem Texaner. Er tastete neben sich – nichts. Kein Steinstück, das er als Waffe benutzen konnte.
Der riesige Steinadler saß mit in den Fels gestoßenen Krallen da und starrte ihn hypnotisierend an.
Plötzlich spannte er seine gewaltigen Flügel und ließ sie schlagend wippen.
Halbot hielt den Atem an.
Da schoß der gefährliche Raubvogel im Sturzflug auf ihn nieder.
Halbot fuhr zur Seite.
Ein wilder und auf beiden Seiten mit tödlicher Erbitterung geführter Kampf begann.
Als er zu Ende war, hatte der Mann aufgerissene blutige Hände, eine große Wunde von einem Schnabelstoß in der linken Schulter, und sein rechtes Ohr war aufgerissen.
Der Vogel lag tot neben ihm am Felsen, der so grau war wie sein Federkleid.
Jake Halbot setzte seinen fürchterlichen Weg fort.
Und als die Sonne hinter den Gipfeln der Bergriesen verschwunden war, schien es ihm endgültig klar zu sein, was man sich im Camp der Lebenslänglichen erzählte: Aus Sescattewa gab es kein Entkommen!
Der Fels, der sich hoch über den Steinbrüchen in den Himmel schob, schien keinen Paß zu haben und kein Ende nehmen zu wollen.
Zu Tode erschöpft hing der junge Mann in einer Steinrinne und spürte nicht einmal mehr den Regen, der in der Nacht fiel.
*
Tage waren vergangen.
Der Mann, der sich durch das Waldtal nach Süden schleppte – hatte nur noch sehr wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen.
Blutig, mit Schnitt- und Kratzwunden über und über bedeckt, völlig zerlumpt und zerfetzt – strauchelte er vorwärts.
Wie der Sträfling Jake Halbot über den Berg gekommen war, wie er seine vielfältigen Zacken, Zinnen, Klüfte und Spalten überwunden hatte,