Halbot stemmte sich in den Boden, und Shack stieg auf seine Schultern.
Shack hatte sich hinaufgezogen.
Halbot sah zu ihm hinauf, sah, daß der andere reglos auf dem Felsvorsprung kauerte. Scharf zeichnete sich die Silhouette seines Rückens gegen den Nachthimmel ab. Dann verschwand er.
In Halbots Brust krampfte sich alles zusammen.
Er hätte wild aufschreien mögen vor Wut und Verzweiflung. Da hörte er plötzlich dicht über sich Shacks Stimme: »Los, spring hoch und pack meinen Arm!«
Halbot war zusammengefahren. Er blickte hoch und sah an einer unerwartet niedrigen Stelle im Dunkel über sich den Arm Shacks.
Der Texaner reagierte sofort, federte sich vom Boden ab und hatte den muskulösen Arm des Gefährten zu packen. Unter Aufbietung all seiner Kräfte zog Steve Shack den anderen zu sich hinauf.
Aber welch ein Anblick bot sich dem Texaner hier!
Die Nische war so niedrig, daß die Männer sich nur ducken konnten. Vorn rechts fiel der Fels lotrecht in die Tiefe. Links war eine schroffe glatte Wand.
Und über ihnen – yeah, was war über ihnen.
Shack ächzte leise.
»Wir müssen hoch.«
»Und was ist da? Vielleicht eine Steinwand – wenn wir’s überhaupt schaffen.«
Wieder wollte Shack voransteigen.
Halbot stemmte sich mit dem Gesicht zur Nische – um nicht in den grau-schwarzen nebligen Abgrund starren zu müssen – gebeugt in den Fels.
Shack stützte sich auf ihn, bekam im Sprung die überhängende Kante zu fassen. Noch ehe er sich richtig festhalten konnte, sah er Jake Halbot unten rücklings taumeln.
Der Abstoß Shacks hatte den Texaner aus dem Gleichgewicht gebracht.
Blitzschnell handelte der Grauhaarige.
Er warf sich zurück und stieß Halbot durch die Wucht seines eigenen Falles in die Nische zurück. Sich selbst konnte er mit knapper Not an der Kante halten.
Keuchend und schwer nach Atem ringend kauerten sie nebeneinander am Boden.
Nach einer Pause von einigen Minuten versuchten sie es wieder.
Shack klammerte sich an die überhängende Kante und zog den Gefährten nach.
Was Halbot befürchtet hatte, bewahrheitete sich.
Sie knieten auf einem glatten, sehr abschüssigen Plateau, das bedeutend größer war als die beiden anderen, aber dafür steiler anstieg und gegen eine in den Himmel ragende, vom Regen schimmernde Felswand lief.
Rechts und links fiel der Boden überhanglos ab.
»Aus«, keuchte der Grauhaarige.
Halbot schluckte. Er starrte auf die regennasse Steilwand. Die Verzweiflung trieb ihn vorwärts. Er kroch auf allen vieren auf die Wand zu, starrte, als er sie erreicht hatte, an ihr hinauf, kroch weiter an ihr entlang bis dahin, wo der Berg im Norden in die Tiefe abfiel.
Es gab keinen Weg.
Gefangen in dem selbstgewählten, nach drei Seiten hin offenen Käfig lagen die beiden Sträflinge mehrere hundert Yards hoch in den felsigen Gipfelklüften eines der zerrissensten, zackigsten Berge der hohen Mountains.
Endlose Minuten tropften mit dem Regen in die Ewigkeit.
Das Hoffnungslose ihrer Situation hatte die beiden geflüchteten Verbrecher verstummen lassen.
Daß es kein Zurück gab, war ihnen völlig klar.
Ein Abstieg von hier oben hätte ihren sicheren Tod bedeutet.
Im Osten begann der Morgen zu grauen.
Die Kühle des Gesteins kroch in die langsam von der abgeklungenen Hitze des Aufstiegs erkalteten Körper.
Dann ging die Sonne auf.
Unten lag noch alles in grauem und violettfarbenem Dunst.
Die beiden Gefangenen sahen es nicht. Sie lagen am Boden und starrten auf das nasse Gestein.
Kurz vor Sonnenaufgang hatte der Regen ausgesetzt.
Der neue Tag begann.
Und mit dem Licht schien das Leben in die beiden Männer zurückzukehren.
Halbot hob den Kopf und fixierte die Wand.
Ein Aufstieg an ihr war einfach unmöglich. Sie sah aus, als sei sie in Urzeiten durch den Axthieb eines Himmelsgiganten von einem anderen Felsen abgespalten worden.
Halbot bewegte sich vorwärts.
Der Texaner robbte Zug um Zug vorwärts. Langsam schob er sich über die abschüssige Steinebene an den Rand, der nach Norden hin abfiel. Es dauerte fast eine Viertelstunde.
Als er die Kante erreicht hatte und einen Blick hinunterwerfen konnte, schloß er die Augen.
Lotrecht fiel hier der Fels in die grauschwarze Tiefe.
Halbot hielt den Atem an. Ohne die Augen wieder zu öffnen, schob er sich im Krebsgang zurück.
Wieder lagen die beiden flüchtigen Verbrecher still und stumm nebeneinander.
Die Sonne zog mit ihrem gleißenden Schein über die Bergzinnen.
Tiefblau spannte sich der Himmel über das weite Land.
Kurz vor Mittag hörte der Texaner das Rieseln von Steinstaub.
Er blickte sich um und sah, wie sich Shack dem Südende des Plateaus zuwandte.
Der Grauhaarige robbte langsam vorwärts.
Halbot verfolgte ihn gespannt mit den Augen. Dann sah er, wie Shack ihm winkte.
Er robbte ihm nach.
Shack deutete nach unten.
Halbot schob sich noch einige Inches vor. Dann sah er es.
Etwa zwanzig Yards unter ihnen war ein Felsvorsprung.
Shack krächzte: »Wenn wir da unten wären, könnten wir vielleicht drüben an der Wand entlangkriechen. Sie ist nicht allzu steil…«
Halbot starrte hinunter.
Vielleicht war es nicht ganz so tief. Es war von hier oben schlecht zu schätzen. Und der Vorsprung war nicht breit. Höchstens zehn Yards. Wenn man schlecht aufkam, hochgefedert wurde, konnte man über die Felsnase in die Tiefe geschleudert werden.
Die beiden Sträflinge blickten einander in die Augen.
Halbot sah ein entschlossenes Leuchten im Blick des Grauhaarigen.
Dann richtete sich Shack plötzlich auf – und war im nächsten Moment wie ein springendes Tier über dem Abgrund verschwunden.
Halbot hatte die Augen geschlossen.
Unter sich hörte er das Geräusch eines harten Aufschlags.
Da riß er die Augen auf.
Steve Shack lag reglos mit ausgestreckten Armen und Beinen auf der Felsnase.
Tot?
Halbot spürte, wie sich ihm die Kopfhaut zusammenzog. Mit weitoffenen Augen stierte er auf den Körper des Mannes, der den Sprung gewagt hatte, weil es einfach keine andere Chance gegeben hatte.
Minuten krochen über den Berg dahin.
Plötzlich zuckte Halbot zusammen.
Hatte sich Steve Shack nicht eben bewegt?
Doch, richtig.
Ein freudiger Schreck durchzuckte die Brust des Texaners.
Nicht, weil der andere noch lebte – sondern weil er den Sprung überlebt hatte. Den gleichen Sprung,