Oliver Twist. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Klassiker bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943466706
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und schob das Pa­pier zur Sei­te.

      »Ich will doch nicht hof­fen«, stam­mel­te Mr. Limbkins, »ich will doch nicht hof­fen, dass der hohe Ge­richts­hof der Mei­nung ist, der löb­li­che Ar­beits­vor­stand kön­ne auf das Zeug­nis die­ses Kin­des hin ir­gend­ei­ner ta­delns­wer­ten Hand­lung be­zich­tigt wer­den?«

      »Ich sehe mich als Frie­dens­rich­ter nicht be­ru­fen, dar­über ir­gend­ei­ne Mei­nung ab­zu­ge­ben«, er­wi­der­te der alte Herr. »Neh­men Sie den Kna­ben wie­der mit heim und be­han­deln Sie ihn gut. Er scheint es sehr nö­tig zu ha­ben.«

      Am sel­ben Abend noch gab der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te nicht nur die po­si­ti­ve Ver­si­che­rung ab, Oli­ver wür­de be­stimmt noch ein­mal an den Gal­gen kom­men, son­dern er füg­te so­gar die Pro­phe­zei­ung hin­zu, man wer­de ihn vor­her noch schin­den und vier­tei­len. Auch Mr. Bum­ble schüt­tel­te ge­heim­nis­voll den Kopf und äu­ßer­te den Wunsch, Oli­ver wer­de sich der­einst im Le­ben noch bes­sern, wäh­rend Mr. Gam­field be­dau­er­te, ihn nicht in sei­ne Klau­en be­kom­men zu ha­ben. Am nächs­ten Mor­gen wur­de aber­mals durch einen An­schlag­zet­tel kund­ge­ge­ben, dass Oli­ver Twist »zu ha­ben sei«, und dass je­der, der ihn neh­men wol­le, da­für fünf Pfund be­käme.

      1 Si­ne­ku­re (ver­kürzt zu la­tei­nisch sine cura ani­ma­rum »ohne Sor­ge für die See­len«, d. h. ohne Ver­pflich­tung zur Seel­sor­ge) be­zeich­net ein Amt, mit dem Ein­künf­te, aber kei­ne Amts­pflich­ten ver­bun­den sind. <<<

      Die Her­ren Vor­stän­de hat­ten Mr. Bum­ble be­auf­tragt, sich zu er­kun­di­gen, ob nicht viel­leicht ein Strom­schif­fer einen Lehr­jun­gen brau­che. Es war im All­ge­mei­nen üb­lich, Wai­sen­kin­der oder sol­che, die man gern los­wer­den woll­te, zur See zu schi­cken. Als der Kirch­spiel­die­ner zu­rück­kehr­te, traf er vor dem Tore zu­fäl­lig Mr. So­wer­ber­ry, den Lei­chen­be­stat­ter des Kirch­spiels. Mr. So­wer­ber­ry war ein großer ha­ge­rer kno­chi­ger Mann in ei­nem schwar­zen fa­den­schei­ni­gen An­zug, mit schä­bi­gen Baum­woll­st­rümp­fen glei­cher Far­be und dement­spre­chen­dem Schuh­zeug an­ge­tan. Schon von Na­tur aus tru­gen sei­ne Züge nicht ge­ra­de einen lä­cheln­den Aus­druck, aber zu­fäl­lig be­fand er sich heu­te in der hei­tern Lau­ne, die sein Ge­wer­be mit sich brach­te. Sein Schritt war elas­tisch, und sein Ant­litz zeug­te von in­ne­rem Froh­sinn, wie er so auf Mr. Bum­ble zu­schritt und ihm herz­lich die Hand schüt­tel­te.

      »Ich habe den bei­den Frau­en Maß ge­nom­men, die wo ges­tern Nacht ge­stor­ben sin, Mr. Bum­ble«, sag­te er.

      »Sie wer­den noch mal ein rei­cher Mann wer­den, Mr. So­wer­ber­ry«, be­merk­te Mr. Bum­ble und steck­te Dau­men und Zei­ge­fin­ger in die hin­ge­reich­te Schnupf­ta­baks­do­se des Lei­chen­be­stat­ters, die sin­nig ein klei­nes Mo­dell ei­nes Sar­ges dar­stell­te. »Ich sags im­mer, Sie wer­den noch ein­mal ein rei­cher Mann, Mr. So­wer­ber­ry«, wie­der­hol­te Mr. Bum­ble und klopf­te dem Lei­chen­be­stat­ter ver­trau­lich auf die Schul­ter.

      »Glau­ben Sie?« frag­te der Lei­chen­be­stat­ter in ei­nem Ton, halb zu­stim­mend, halb ab­leh­nend. »Die Kos­ten, die wo mir die Her­ren Vor­stän­de be­wil­li­chen, sin sehr nied­rich.«

      »Ihre Sär­ge aber auch«, er­wi­der­te der Kirch­spiel­die­ner und ver­zog sein Ge­sicht zu ei­nem Lä­cheln, das sei­ner ho­hen Stel­lung an­ge­mes­sen war.

      Mr. So­wer­ber­ry fühl­te sich durch die­se Herab­las­sung nicht we­nig ge­schmei­chelt und lach­te eine Wei­le ge­zie­mend.

      »Nun ja, Mr. Bum­ble«, sag­te er schließ­lich. »Zu leuch­nen ist frei­lich nich, dass seit Ein­füh­rung des neu­en Sys­tems die Sär­ge nied­ri­cher und kür­zer ge­wor­den sind, als sie sonst wa­ren, aber schließ­lich muss man sie doch ha­ben, Mr. Bum­ble. Gu­tes trock­nes Holz ist nich bil­lich und die Be­schlä­ge be­zie­he ich di­rekt aus den Ei­sen­fa­bri­ken in Bur­ming­ham.«

      »Ja­wohl, ja­wohl, ich weiß, ich weiß«, sag­te Mr. Bum­ble. »Je­des Ge­schäft hat so sei­ne klei­nen Knif­fe, und das nimmt man auch nicht übel.«

      »Na­tür­lich nich, na­tür­lich nich«, stimm­te der Lei­chen­be­stat­ter ein. »Wenn auch bei mei­nem Ar­ti­kel nich viel zu ver­die­nen is, so muss ich eben schau­en, es an­ders­wo wie­der her­ein­zu­brin­gen – hi­hi­hi.«

      »Sehr rich­tig«, sag­te Mr. Bum­ble. »Üb­ri­gens so ne­ben­bei: wis­sen Sie nicht je­man­den, der einen Lehr­jun­gen brau­chen könn­te; einen Jun­gen aus dem Ar­beits­haus, einen, der uns nicht vom Hals geht, und den wir am Bein ha­ben wie eine Ket­te. Fei­ne Be­din­gun­gen, Mr. So­wer­ber­ry! Sehr fei­ne Be­din­gun­gen!« da­bei deu­te­te Mr. Bum­ble mit sei­nem Stock auf den Zet­tel, der auf dem Tor kleb­te, und führ­te drei nach­drück­li­che Schlä­ge ge­gen die Wor­te »fünf Pfund«, die dort mit großen Let­tern zu le­sen wa­ren.

      »Sa­per­ment, Sa­per­ment«, rief der Lei­chen­be­stat­ter und fass­te Mr. Bum­ble an ei­nem sei­ner gold­nen Knöp­fe. »Dar­über woll­te ich ge­ra­de mit Ih­nen spre­chen. Üb­ri­gens alle Ach­tung, was für ein ele­gan­ter Knopf ist das, Mr. Bum­ble. Den habe ich ja noch nie an Ih­nen ge­se­hen.«

      »Ja, ja, er ist ganz hübsch«, sag­te der Kirch­spiel­die­ner und blick­te mit Stolz auf sei­ne großen Me­tall­knöp­fe. »Und das Wap­pen des Kirch­spiels ist drauf. Sie se­hen: der barm­her­zi­ge Sa­ma­ri­ter, wie er sich des Kran­ken an­nimmt. Die Her­ren Vor­stän­de ver­lie­hen mir das Wap­pen an je­nem Mor­gen, Mr. So­wer­ber­ry, als ein Ar­bei­ter da­mals in­fol­ge Über­nach­tens in ei­nem Tor­we­ge er­fro­ren war.«

      »Ja, ja, ich er­in­ne­re mich«, sag­te der Lei­chen­be­stat­ter. »Die Lei­chen­be­schau­kom­mis­si­on fäll­te da­mals den Spruch: ge­stor­ben in­fol­ge Er­frie­rens und aus Man­gel an den ge­wöhn­lichs­ten Le­bens­be­dürf­nis­sen. Wars nich so?«

      Mr. Bum­ble nick­te. »Ja, ja, die Lei­chen­be­schau­er«, sag­te er und fass­te sei­nen Stock fes­ter, – was er im­mer tat, wenn er är­ger­lich wur­de. »Uns­re Lei­chen­be­schau­er sind ein ganz un­ge­bil­de­tes dum­mes Pack.«

      »Ja, das stimmt«, er­wi­der­te So­wer­ber­ry.

      Mr. Bum­ble nahm sei­nen Drei­spitz ab, nahm das dar­in be­find­li­che Ta­schen­tuch und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn, den der Är­ger sei­nem Haup­te ent­lockt, und setz­te den Hut wie­der auf. Dann wand­te er sich mit ver­än­der­tem Ton an den Lei­chen­be­stat­ter.

      »Na also, wie ist’s, was solls mit dem Jun­gen?«

      »Nun, Sie wis­sen«, er­wi­der­te der Lei­chen­be­stat­ter. »Sie wis­sen, Mr. Bum­ble, ich tra­che eine hüb­sche Sum­me mit zu den Ar­men­steu­ern bei.«

      »Hem«, hüs­tel­te Mr. Bum­ble. »Na und?«

      »Na und da dach­te ich«, fuhr So­wer­ber­ry fort, »wenn ich schon so viel zah­le, habe ich viel­leicht auch ein Recht, es an­der­weits ir­chend­wo wie­der her­ein­zu­brin­gen, Mr. Bum­ble. Na und da dach­te ich, ich könn­te den Jun­gen viel­leicht neh­men.«

      Mr. Bum­ble er­griff ihn am Arm und führ­te ihn so­fort ins Haus.