Wenn es auch weiter nicht zu verwundern war, dass die Herren Gemeindevorstände darüber in Entrüstung gerieten, dass sich ein junger Mensch, der ihrer Fürsorge anvertraut war, in einem solchen Falle gänzlich empfindungslos zeigte, so beurteilten sie dennoch den Fall ganz falsch. Die Sache lag einfach so, dass Oliver nicht nur nicht empfindungslos war, sondern vielmehr infolge der schlechten Behandlung, die er erfahren, sich auf dem besten Wege befand, für sein ganzes Leben in einen Zustand tierischer Stumpfheit und geistiger Umnachtung zu versinken. Unbeweglich und stumm hörte er die an ihn gerichteten Worte an, scheinbar vollständig gleichgültig gegenüber seinem weiteren Schicksal. Nachdem man ihm sein Bündel, bestehend aus einem kleinen Paket, in die Hand gedrückt, zog er seine Mütze über die Augen und ließ sich widerstandslos von Mr. Bumble hinausführen. Eine Zeit lang schleifte ihn der Kirchspieldiener hinter sich her, ohne ihn eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Es war ein windiger Tag, und wenn der Luftzug Mr. Bumbles Rockschöße aufwehte, wobei die langzipflige Kirchspieldienerweste und die Kniehosen aus gelbem Samt sich den Blicken enthüllten, verschwand der kleine Oliver fast ganz hinter den flatternden Kleidungsstücken. Als sie sich knapp vor ihrem Ziel befanden, hielt es Mr. Bumble für an der Zeit, seinen Blick zu senken und sich zu überzeugen, ob der Junge soweit präsentabel sei, um das Wohlgefallen seines neuen Meisters und Herrn erwecken zu können.
»Oliver!« sagte er.
»Ja, Sir?« erwiderte Oliver mit bebender Stimme.
»Schieb dir die Mütze aus der Stirn, Junge, und halte dich gerade.«
Trotzdem Oliver augenblicklich gehorchte und sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen fuhr, schimmerte doch noch eine Träne darin, und wie Mr. Bumble mit Strenge auf ihn herniederblickte, rollte ihm die Träne die Wange hinunter. Eine zweite Träne folgte und noch eine dritte. Der Kleine gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die andere Hand aus Mr. Bumbles Hand, bedeckte sein Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen über das Kinn herabtropften und zwischen den magern Fingern hervorquollen.
»Da hört sich doch alles auf«, rief Mr. Bumble, blieb stehen und runzelte wütend die Augenbrauen. »Von all den undankbarsten verdorbensten Waisenbuben, Oliver, die mir je untergekommen sind, bist du doch der schlimmste.«
»Nein, nein, Sir«, schluchzte Oliver und klammerte sich wieder an die Hand, die den wohlbekannten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirklich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so -«
»Was denn – so?« forschte Mr. Bumble erstaunt.
»So einsam und verlassen, Sir, so schrecklich einsam«, schluchzte der Kleine. »Niemand kann mich leiden. Bitte, seien Sie nicht auch noch böse auf mich.«
Dabei drückte er die Hand aufs Herz und blickte seinem Begleiter ins Gesicht, während Tränen tiefsten Schmerzes seine Augen füllten.
Ein paar Sekunden lang betrachtete Mr. Bumble Olivers hilfeflehendes Gesicht voll Erstaunen, dann hüstelte er ein paarmal verlegen, murmelte ein paar Worte über das dumme Wetter und ermahnte ihn, ein guter Junge zu sein. Dann fasste er ihn wieder bei der Hand und ging schweigend mit ihm weiter.
Der Leichenbestatter hatte eben seinen Laden geschlossen und machte gerade beim Schimmer einer Talgkerze ein paar Eintragungen in sein Kontobuch, als Mr. Bumble eintrat.
»Aha«, rief er und blickte von dem Buche auf. »Sie sind es, Bumble.«
»Jawohl, ich bins«, erwiderte der Kirchspieldiener. »Hier ist er. Ich habe Ihnen den Jungen mitgebracht.«
Oliver machte einen Kratzfuß.
»Also das ist der Junge, was?« fragte der Leichenbestatter und hielt die Kerze in die Höhe, um den Kleinen besser besichtigen zu können. »Liebe Frau, sei einmal so gut und komm einen Augenblick her.«
Mrs. Sowerberry tauchte aus einem kleinen Zimmer hinter dem Laden auf, und auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass sie eine kleine hagere Person mit zänkischem Gesichtsausdruck war.
»Liebe Frau«, begann Mr. Sowerberry betreten, »das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich dir erzählt habe.« – Oliver machte abermals einen Kratzfuß.
»Gott im Himmel«, rief die Frau, »ist der aber klein!«
»Freilich, ein wenig klein ist er«, gab Mr. Bumble zu und sah Oliver mit einem strafenden Blick an, als ob dieser die Schuld daran trage, dass er nicht größer geworden sei. – »Klein ist er, das lässt sich nicht bestreiten. Aber er wird schon noch wachsen, Mrs. Sowerberry.«
»Ja, ja, auf unsre Kosten!« zankte die Frau verdrießlich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich kenne schon die Armenhauskinder, die fressen immer mehr, als sie wert sind. Aber die Männer wissen natürlich immer alles am besten. Marsch, die Treppe hinunter, du Häufchen Unglück!« Mit diesen Worten öffnete Mrs. Sowerberry eine kleine Tür und drängte Oliver eine steile Treppe hinab in einen feuchten finstern Keller, der den Vorraum zum Kohlenkeller bildete und die Bezeichnung Küche trug. Dort saß ein schlumpiges Dienstmädchen mit Schuhen mit schiefen Absätzen und blauen Strümpfen voll großer Löcher, die offenbar schon seit langem auf Reparatur warteten.
»Hier, Charlotte«, sagte Mrs. Sowerberry, »gib dem Jungen ein paar von den Resten, die für Trip aufgehoben worden sind. Seit morgens streunt das Biest auf der Gasse herum, da soll es sich mal hungrig zu Bett legen. Hoffentlich ist der Bursche da nicht zu heikel. He, Junge, was sagst du dazu?«
Oliver, dessen Augen, als von Essen die Rede war, aufgeleuchtet hatten, zitterte förmlich vor Gier und beteuerte, dass er durchaus nicht heikel sei; und daraufhin wurde ihm eine Schüssel Speisenabfälle vorgesetzt.
Wenn da nur so ein gewisser sattgefressener Theoretiker mit einem Herzen von Stein zugesehen hätte, wie sich Oliver Twist über das Futter hermachte, das für den Hund bestimmt war, und die Gier, mit der er die Bissen auseinanderriss – halbohnmächtig von Hunger. Noch besser, wenn ein solcher Theoretiker selbst einmal gezwungen wäre, sich über eine derartige Sorte Futter herzumachen …
»Na?« fragte die Frau Leichenbestatterin, als Oliver mit allem gründlich aufgeräumt hatte, stumm vor Entsetzen und böser Ahnung, wie das mit dem Appetit des Lehrjungen