Im ersten Halbjahr nach Olivers Ankunft war das System bereits in vollem Gange. Der Raum, in dem die Knaben ihr Essen bekamen, war eine Art Küche, und der Koch, von ein paar Frauenzimmern unterstützt, teilte ihnen aus einem Kupferkessel ihre drei Portionen Hafer zu – einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen, wie gesagt, die Sonn- und Feiertage, wo ein nicht allzu großes Stückchen Brot dazukam. Die Näpfe auszuwaschen war überflüssig, da die Jungen mit ihren Löffeln sowieso so lange darin herumkratzten, bis alles wieder glänzend war. Und wenn sie mit ihrer Tätigkeit fertig waren, was nie allzu lange Zeit in Anspruch nahm, da die Löffel beinahe so groß waren wie die Näpfe selber, – saßen sie da und starrten auf den Kupferkessel mit so gierigen Augen, als ob sie am liebsten sogar die Ziegelsteine, aus denen der Herd aufgebaut war, verschlungen hätten, und saugten dabei an ihren Fingern in der Hoffnung, dort vielleicht noch irgendwo ein verirrtes Tröpfchen Haferschleim aufzulecken. Kinder pflegen nämlich einen vortrefflichen Appetit zu haben.
Drei Monate lang hatten Oliver und seine Kameraden die Qualen langsamen Hungertodes durchgemacht und waren kaum mehr imstande, diesen Zustand länger zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Junge, dessen Vater Koch gewesen war, gab eines Tages seinen Gefährten zu verstehen, wenn er nicht bald eine Schüssel Haferschleim pro Tag mehr bekomme, so würde er sich nicht helfen können und müsse höchst wahrscheinlich eines Nachts seinen Schlafnachbar auffressen. Dieser Vielfraß hatte ein wildes hungriges Auge, und seine Reden riefen große Angst unter seinen Kameraden hervor. So beratschlagten sie untereinander, und es wurde gelost, wer von ihnen nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und noch um einen Napf bitten solle. Das Los fiel auf Oliver.
Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Speisemeister stellte sich in seiner weißen Kochschürze an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgeteilt und ein langes Tischgebet gesprochen. Als die Mahlzeit vorüber war, flüsterten die Jungen untereinander, gaben Oliver Winke, und die ihm Zunächstsitzenden stießen ihn mit den Ellbogen an. Der Hunger machte ihn alle Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Koch hin und sagte mit bebender Stimme:
»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich möchte noch um ein wenig bitten.«
Der Koch, ein feister rotbackiger Mann, wurde blass wie der Kalk an der Wand. In maßlosem Staunen starrte er einige Sekunden den kleinen Rebellen an und musste sich am Kessel festhalten, um nicht umzufallen. Die beiden Frauenzimmer waren geradezu gelähmt vor Entsetzen, und auch die Jungen konnten vor Furcht kein Wort hervorbringen.
»Was?« fragte der Koch endlich mit schwacher Stimme.
»Ich bitte, Herr«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch etwas haben.«
Der Koch gab ihm eins mit dem Löffel über den Kopf, fasste ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirchspieldiener.
Die Herren Vorstände saßen gerade zusammen bei einer Beratung, als Mr. Bumble in höchster Erregung ins Zimmer stürzte und dem Herren auf dem hohen Stuhl meldete:
»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir, Oliver Twist hat mehr zu essen verlangt.«
Alles fuhr auf. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern.
»Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kommen Sie zu sich, Bumble! Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?«
»Jawohl, Sir.«
»Der Bursche kommt noch an den Galgen«, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. »Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.«
Niemand widersprach, und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Auf Befehl der Vorstandschaft wurde Oliver augenblicklich eingesperrt, und am nächsten Morgen hing ein Anschlagzettel an der Außenseite des Tores des Arbeitshauses, auf dem eine Belohnung von fünf Pfund ausgesetzt war für jeden, der die Gemeinde der weiteren Fürsorge für Oliver Twist enthöbe; mit anderen Worten: es wurden fünf Pfund jedermann angeboten, der Oliver Twist als Lehrling oder Laufburschen zu sich nähme.
»In meinem ganzen Leben war ich noch von nichts so fest überzeugt«, sagte der Gentleman mit der weißen Weste, als er am nächsten Morgen an das Tor klopfte und den Zettel las, »wie ich jetzt davon überzeugt bin, dass der Bursche noch einmal an den Galgen kommen wird.«
3 – Berichtet, wie Oliver Twist beinahe eine Anstellung bekommen hätte, die nichts weniger als eine Sinekure1 gewesen wäre.
Eine Woche lang blieb Oliver nach seiner Missetat in dem finstern Raum, in den ihn die Herren Vorstände hatten sperren lassen, in Haft. Hätte er den gehörigen Respekt vor der Prophezeiung des Gentlemans mit der weißen Weste gehabt, würde er sich zweifellos vermittels eines Taschentuches an einem Haken in der Mauer aufgehängt haben. Aber dazu fehlte ihm vor allem ein Taschentuch – ein solcher Luxus war strenge verpönt -, und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur Tag und Nacht und bedeckte sich mit seinen kleinen Händen die Augen, um nicht in die Finsternis starren zu müssen, oder er kroch in einen Winkel und versuchte zu schlafen. Aber jedes Mal fuhr er wieder vor Angst und Entsetzen aus seinem unruhigen Schlummer auf und drückte sich noch dichter an die Mauer, als böte ihm selbst ihre harte kalte Fläche noch ein wenig Schutz gegen die Finsternis und Einsamkeit, die ihn rings umgab.
Um gerecht zu sein, dürfen wir nicht verschweigen, dass es ihm andererseits an Bewegung und geistlichem Zuspruch nicht fehlte. Was die Leibesübungen betraf, wurde ihm angesichts des kalten Wetters, das gerade herrschte, die Vergünstigung zuteil, sich jeden Morgen unter der Pumpe in einem gepflasterten Hof waschen zu dürfen, und zwar in Gegenwart Mr. Bumbles, der durch wiederholte Anwendung seines Amtstabes eventuellen Erkältungen vorbeugte und bewirkte, dass von Zeit zu Zeit ein prickelndes Gefühl Olivers Körper durchdrang. Was die Anregung anbelangte, wurde er jeden zweiten Tag in den Saal geführt, wo die Zöglinge ihr Mittagessen verzehrten, und vor ihren Augen als warnendes Beispiel öffentlich ausgepeitscht. Hinsichtlich religiösen Zuspruchs wurde