»Verfluchte Kanaille!« sagte jemand neben ihr, und Lurch, der sich an Rosas Röcke anzuklammern versuchte, ward gepackt. »Nun Brüderchen, komm nur«, sagte dieselbe Stimme, und Lurch flog auf die andere Seite des Weges hinüber, um dort lautlos niederzufallen. Vor Rosa stand Herweg und lachte über das ganze Gesicht. »Dem Kerl wollen wir solche Späße versalzen. Wie der flog«, meinte er.
»Ich danke Ihnen«, sagte Rosa.
»Wie Sie blass sind, Rosa.«
»Ich will heimgehen. Ich fürchte mich.«
»Der Kerl wird Ihnen nichts mehr tun. Wie kam er überhaupt zu Ihnen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Geben Sie mir Ihren Arm. Ich führe Sie nach Hause.«
»Nein – nein! Ich gehe allein«, und Rosa begann eilig vorwärtszugehen. Herweg jedoch folgte ihr, und als Rosa lief, lief er auch und rief: »So warten Sie doch, Schätzchen.« Er holte sie auch ein, hielt sie an ihrem Mantel fest und lachte.
»O Gott – o Gott!« stöhnte Rosa und wandte Herweg ein so verzweifelt angstvolles Gesicht zu, dass er bestürzt ward. »Aber Rosa«, sagte er, »ich tue Ihnen ja nichts. Kennen Sie mich denn nicht mehr?«
»Ach lassen Sie mich gehen«, flehte Rosa.
»Gewiss, guten Abend«, versetzte Herweg und grüßte verlegen. Er verstand nicht, was dem Mädchen war; hatte er ihm denn auch ein Leid zugefügt? Verdrießlich und enttäuscht ging er seiner Wege.
»Kind, wo bist du gewesen?« rief Agnes, die in der Küche saß, Rosa entgegen, als diese nach Hause kam. »Der Vater ging dich suchen.« Rosa erwiderte nichts. Sie stellte sich bloß in den hellen Schein des Herdfeuers. Ein jeder musste es ja auf ihrem Gesichte lesen, was sie erlebt hatte. »Großer Gott, was ist denn geschehen?« rief Agnes.
»Ach Agnes!« Mehr vermochte Rosa nicht hervorzubringen. Sie kniete vor ihrer alten Pflegerin nieder, verbarg ihren Kopf in deren Schoß und weinte und schluchzte ganz aus vollem Herzen. Agnes fragte nicht weiter, sie hielt den blonden Kopf auf ihren Knien und strich mit der Hand sanft über das Haar. Als Herr Herz heimkam, tauschte er mit Agnes nur stumme Blicke und Winke aus, legte Holz auf das Feuer, trank Tee, saß da und drehte kummervoll einen Daumen um den andern, und zuweilen, auf den Fußspitzen an Rosa herantretend, ließ er eine Weile seine Hand neben Agnes’ Hand auf dem Haupte seines Kindes ruhen.
Wortlos saßen sie fast die ganze Nacht hindurch auf und wachten über Rosas Schmerz.
Viertes Kapitel
Lurch blieb noch eine Weile dort unten am Wege liegen – ein dunkles, regungsloses Paket. Endlich belebte der scharfe Wind seine Lebensgeister; er fror und richtete sich auf. Das Gehen wollte nicht sogleich gelingen, das rechte Bein schmerzte. Liebevoll betastete Lurch seine Glieder, um zu untersuchen, wie groß der angerichtete Schaden sei. Er musste nicht bedeutend sein, denn Lurch wandte sein Gesicht ernst dem Monde zu und sprach laut vor sich hin: »Lurch ist heil«, dann machte er sich mühsam auf den Heimweg.
Nach dem heftigen Leidenschaftssturm, der ihn bewegt hatte, fühlte er sich beruhigt und ernüchtert. Er sprach wohl halblaut mit sich selbst, aber in seiner sanften, bescheidenen Weise, als verkehrte er mit einem Kunden im Geschäft. Dabei reinigte er peinlich und genau seinen Überrock. »Das ging nicht. Nein! Das ging gar nicht. Wie sollte es auch? Ich hätte es nicht glauben sollen. Nun ist’s aus. Natürlich, was kann denn jetzt noch kommen? Natürlich.«
Lurch wohnte an dem Kirchenplatz in einem hohen, schmalen Hause. Vier Treppen hoch hatte er für sich und seine Mutter zwei Zimmer und eine Küche gemietet, und diese waren der Schauplatz seiner zarten, kindlichen Sorgfalt. Er liebte seine Mutter, er entsann sich kaum einer Zeit, da er nicht für die alte Frau zu sorgen gehabt hätte. Ihr eine ruhige Existenz sichern war stets die Hauptaufgabe seines Lebens gewesen. Erst als er zu glauben begann, seine Liebe zu Rosa sei nicht ganz hoffnungslos, erst da dachte er an die Möglichkeit, sich von seiner Mutter zu trennen. Wenn Rosa es verlangte, musste es geschehen, natürlich, aber es würde doch hart für die alte Frau sein!
Mit schweren Schritten stieg Lurch die finsteren Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Das erste Zimmer war leer. Ein Lichtschein vom Nachbarfenster fiel in das zweite Zimmer auf das Bett der alten Frau, und Lurch sah, wie jeden Abend, wenn er heimkam, die große weiße Haube schon auf dem Kopfkissen liegen. Sonst pflegte er wohl noch eine Weile auf dem Bett der alten Frau zu sitzen und zu plaudern. Er liebte es, wenn seine Mutter ihre welken Hände auf sein Knie legte und ihn mit matter, schläfriger Stimme über die kleinen Ereignisse des Tages ausfragte. »Wie hoch war die Tageslosung im Geschäft? Wen hast du auf der Straße gesehen?« Und die stets wiederkehrende Frage der letzten Zeit war gewesen: »Hast du Rosa Herz gesehen?« Wenn endlich der Schlaf die alte Frau übermannte, stand Conrad Lurch auf, steckte im Nebenzimmer die Lampe an, verzehrte flüchtig – auf einer Tischecke – sein Nachtmahl und vertiefte sich in einen Roman. Diese stillen Nachtstunden, in denen die regelmäßigen Atemzüge der alten Frau und der Ton der Kirchenuhr allein die engen Räume belebten, diese Stunden waren die ereignisreichsten in Lurchs armem Leben. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er oft ganze Nächte über einem Roman auf. Recht süße Erzählungen, in denen die Leute sich heiß liebten, in denen sie weinten, große, edle Gefühle aussprachen, waren ihm die liebsten. Tränen mussten ihm während des Lesens in den Augen brennen und die Hände kalt und kraftlos vor Erregung werden. Erst wenn ihn die Augen schmerzten, legte er das Buch fort und begab sich zur Ruhe, mit den Gedanken noch in der schönen, ereignisreichen Welt des Romans weilend. Und – wenn er so sinnend im Bette wachlag, das Gelesene immer wieder durchlebend, dann mischte sich unter die Personen der Erzählung ein junger Mann, von dem das Buch nichts wusste. Dieser junge Mann hatte lange Gespräche mit der Heldin – bezauberte sie durch seinen Edelmut. Es war eine Art Lurch – kein Zweifel! Und dennoch von Lanins dünnem Kommis sehr verschieden.
Heute ging Lurch nicht zu seiner Mutter hinüber, sondern stellte sich im ersten Zimmer an das Fenster und starrte auf den finstern Kirchenplatz hinab.
»Conni – bist du’s?« fragte die Mutter.
»Ja – Mutter!«