Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962814601
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setz dich her zu mir und hör mir, bit­te, zu. Wir wol­len sehr ver­nünf­tig spre­chen.«

      »Ge­wiss, Kind«, er­wi­der­te Herr Herz und füg­te hin­zu, weil er glaub­te, ein Scherz er­leich­te­re jede Si­tua­ti­on: »Und was für ein stren­ges Schul­meis­ter­ge­sicht du machst!«

      »Oh, la­che nicht, Papa! Ich habe al­len Grund, ernst zu sein«, mein­te Rosa, und wäh­rend sie ih­ren Tee trank, er­klär­te sie: »Ich woll­te dich bit­ten, zu Fräu­lein Schank hin­über­zu­ge­hen – recht bald – mor­gen schon, um sie zu fra­gen, ob jene – Bon­nen­stel­le, von der sie sprach, noch frei ist. Ich bin be­reit, gleich ab­zu­rei­sen, wenn es nö­tig ist.«

      »Wa­rum denn?« frag­te Herr Herz schnell. »Ist ges­tern et­was pas­siert?«

      »Nein. Oder doch. Klappe­kahl teil­te mir ei­ni­ges – über Am­bro­si­us Tel­le­r­at mit, das reg­te mich auf – und hat wohl auch zu mei­nem Ent­schluss bei­ge­tra­gen.«

      Wäh­rend sie sprach, tauch­te sie Brot­schnit­te in den Tee und aß und trank mit Heiß­hun­ger. – Herr Herz blick­te Ag­nes scheu an. Hat­te die­se viel­leicht all das auch vor­aus­ge­se­hen? Klein­laut ver­setz­te er dann: »Wa­rum willst du denn fort, lie­bes Kind?«

      »Wir ha­ben das schon be­spro­chen«, er­wi­der­te Rosa, ernst auf­bli­ckend, »und am Ende geht die Stel­le ver­lo­ren.«

      »So ganz al­lein willst du mich las­sen?« Der alte Bal­let­tän­zer ver­lor sei­ne Fas­sung. Das frem­de, ge­setz­te We­sen sei­nes Kin­des schnür­te ihm das Herz zu­sam­men. Rosa aber rück­te nahe zu ihm her­an, leg­te ihre Hand mit ei­ner müt­ter­lich über­le­ge­nen Be­we­gung an sei­ne Wan­ge und trös­te­te ihn. »Du darfst nicht so be­trübt sein und mir das Herz schwer ma­chen. Wir wol­len uns zu­sam­men­neh­men. Nicht wahr?« In ih­ren Wor­ten lag wie­der das Lie­be­vol­le, Ka­me­rad­schaft­li­che, das er an sei­ner Rosa ge­wohnt war. »Du weißt es ja, dass ich fort muss. Wenn ich viel Geld ver­dient habe – dann kom­me ich zu­rück, und wir füh­ren ein hüb­sches Le­ben, wir drei Al­ten, denn dann bin ich auch schon alt.«

      Herr Herz lä­chel­te, die Au­gen vol­ler Trä­nen: »Wer weiß, mein Kind, ob du mich dann noch fin­dest.«

      »Doch!« er­wi­der­te Rosa lei­se. »Da, wo man hof­fen darf, muss man hof­fen, nicht wahr? Wenn wir den­ken müss­ten, dass al­les im Le­ben schlimm aus­geht, dass nichts so kommt, wie wir es wün­schen, nein, das wäre zu hart! Du, Ag­nes und ich wer­den sehr lus­ti­ge Leu­te sein.«

      Ag­nes stand an der Türe, sie wand­te je­doch Va­ter und Toch­ter den Rücken zu, sie moch­te ihr Ge­sicht nicht se­hen las­sen. –

      »Du gehst also mor­gen zu Fräu­lein Schank«, schloss Rosa und lehn­te sich frös­telnd in die So­fae­cke zu­rück. »Jetzt wol­len wir bei­sam­men sein ganz wie frü­her. Komm, Ag­nes – setz dich her – und du, Papa, er­zähl et­was.«

      Herr Herz wisch­te sich ge­trös­tet die Trä­nen aus den Au­gen. Ge­müt­lich­keit ver­göt­ter­te er. Wä­ren die Leu­te nur ge­müt­lich, vie­les im Le­ben wäre leich­ter zu er­tra­gen – mein­te er. Er be­gann von Sal­ly und Tod­dels zu er­zäh­len, wie sie sich im La­den ge­küsst hat­ten, wie sie Arm in Arm auf der Stra­ße ein­her­stol­zier­ten und mit­ein­an­der dis­pu­tier­ten; Sal­ly fand ih­ren Bräu­ti­gam nicht »gläu­big« ge­nug und woll­te ihn be­keh­ren. – Rosa hör­te schwei­gend zu und lach­te zu­wei­len – sanft und matt, wie im Schlaf. Ag­nes, die Bril­le mit den großen run­den Glä­sern auf der Nase, saß vor dem Feu­er und strick­te. »Nun«, be­merk­te sie zu Herrn Herz’ Be­richt, »wenn die den Tod­dels hei­ra­ten kann, hät­te sie eben­so­gut den Lurch neh­men kön­nen, da ist kein Un­ter­schied.«

      »Lurch!« rief der Bal­let­tän­zer. »Weißt du das denn nicht? Der ist heu­te mor­gen un­ten am Fluss in der ver­ru­fe­nen Ba­de­stu­be tot auf­ge­fun­den wor­den. Ja, ja, in der Wan­ne hat er ge­ses­sen und hat sich mit ei­nem Ra­sier­mes­ser die Puls­ader ge­öff­net. Es ist toll! Die alte Lurch ist schlimm dar­an! Und – warum er’s ge­tan, weiß kein Mensch.«

      »Um Got­tes wil­len! Sehn Sie doch das Kind an!« schrie Ag­nes auf.

      Rosa hat­te sich vor­ge­beugt und starr­te ih­ren Va­ter an, das Ge­sicht weiß wie ein Tuch. »Rosa – ist dir schlecht?« frag­te Herr Herz.

      »Ja«, sag­te sie, sank zu­rück und schloss die Au­gen. »Sehr schlecht!«

      Das Ge­fühl des Ekels und der Furcht, wie sie es ges­tern un­ten am Fluss emp­fun­den hat­te, er­schüt­ter­te sie wie­der. Klam­mer­te sich doch al­les, was nied­rig, grau­sam, furcht­bar war, an ihr Le­ben. Ja, auch die­se blu­ti­ge Tat in der schmut­zi­gen Ba­de­stu­be ge­hör­te zu ihr. Sie sah Lurchs gel­bes Ge­sicht von Blut be­fleckt – sie hör­te wie­der den hei­se­ren, ge­quäl­ten Ton sei­ner Stim­me: »Die Lie­be zu Ih­nen frisst an mir.« Pfui! Al­les, al­les ver­schwor sich, um sie zu be­fle­cken! Sie ging un­ter in den trü­ben, un­rei­nen Flu­ten – und nir­gends Ret­tung. Sie fuhr auf. »Geht nicht fort«, rief sie und griff angst­voll nach dem Arm ih­res Va­ters.

      »Nein, Kind, wir sind da. Be­ru­hi­ge dich. Komm, leg dich zur Ruh.« Rosa ließ sich fort­füh­ren, wie­der­hol­te nur im­mer: »Geht nicht fort.«

      Ein hef­ti­ges Fie­ber er­griff sie über Nacht. Dr. Hol­te kam und schüt­tel­te be­denk­lich den Kopf, als er je­doch nach ei­ni­ger Zeit wie­der vor­sprach, fand er das Fie­ber ge­sun­ken; die Pa­ti­en­tin schlief ru­hig. »Es ist vor­über«, sag­te er. »Gro­ße Mat­tig­keit wird ein­tre­ten, und dann sind wir fer­tig. Eine präch­ti­ge Na­tur, Ihre Toch­ter – bes­ter Herz; kräf­tig, wis­sen Sie. Emp­feh­le mich.«

      Dr. Hol­te hat­te recht. Bald saß Rosa wie­der im Ses­sel und nahm Ag­nes’ Pfle­ge und Sorg­falt wil­lig wie ein Kind ent­ge­gen. Eine große Krank­heit, dach­te sie, wäre ihr lie­ber ge­we­sen, eine je­ner Krank­hei­ten, von de­nen sie ge­le­sen, die jede Erin­ne­rung an die Ver­gan­gen­heit zer­stö­ren und den Men­schen wie ein rei­nes, un­be­schrie­be­nes Blatt dem Le­ben wie­der über­ge­ben. Ja, wer wie­der ganz von neu­em an­fan­gen könn­te!

      Täg­lich frag­te Rosa ih­ren Va­ter: »Bist du bei der Schank ge­we­sen?« – »Nein«, ant­wor­te­te die­ser und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein al­ter Kopf be­hält auch nichts mehr. Aber, so große Eile wird’s wohl nicht ha­ben.«

      »Doch – Papa«, mein­te Rosa mit dem her­ben, ge­reiz­ten Stimm­ton, den sie in letz­ter Zeit an­nahm.

      Sehr schwer ent­schloss sich Herr Herz zu die­sem Gang; ei­nes Mor­gens aber mach­te er sich doch auf den Weg. Fräu­lein Schank emp­fing ih­ren al­ten Freund äu­ßerst kühl und streng. Sie mein­te: Da­mals, als noch Zeit war, woll­te man nicht. Jetzt wüss­te sie nicht, ob die be­tref­fen­de Stel­le noch frei sei. Hät­te man da­mals auf sie ge­hört, so wäre man­ches bes­ser ge­wor­den. »Üb­ri­gens«, sag­te sie, »wis­sen Sie’s ja, dass ich be­reit bin zu hel­fen, wenn ich kann; schon um Ih­rer ver­ewig­ten Schwes­ter wil­len, der, dem Him­mel sei Dank, man­che her­be Er­fah­rung er­spart ge­blie­ben ist. Ich wer­de also schrei­ben – mich er­kun­di­gen. Vor zwei Wo­chen ist na­tür­lich an kein Re­sul­tat zu den­ken.« Sie reich­te dem Bal­let­tän­zer zum Ab­schied ihre kal­ten, spit­zen Fin­ger und wie­der­hol­te: »Wenn ich nüt­zen kann, ste­he ich zu Diens­ten, um Ih­rer Schwes­ter wil­len.«

      Die­se hal­be Stun­de vor dem mit­lei­dig sau­ren Ge­sich­te der