An einem trüben Morgen – Ende Januar – trat Rosa ihre Reise nach Tiglau an. Agnes sollte sie begleiten, alles dort einrichten und wieder zurückkommen.
Herr Herz war an diesem Abschiedsmorgen schweigsam und tief bekümmert. Er konnte nur immer wieder sein Kind sanft streicheln – bald das Haar – bald die Schulter – bald den Arm – und unzählige Male »Mein altes Kind!« sagen.
Als der Wagen vor dem Tor hielt und Agnes zur Abfahrt mahnte, kniete Rosa bei ihrem Vater nieder, ihm noch einmal Lebewohl zu sagen. Er nahm das Gesicht, das ihn so liebend anlächelte, wie nur Rosa es konnte, in seine beiden zitternden Hände, hielt es und schaute es mit feuchten Augen an: »Du weißt«, sagte er, »du und ich, wir gehören zueinander.« – »Ja – Papa!« – »Natürlich, mein Kind, du – und ich.« Dann küsste er seine Tochter auf den Scheitel.
Als der Wagen fortrollte, weinte der alte Mann ungestört. Es sah ihn ja niemand. Frei ließ er die Tränen an den faltigen Wangen niederrinnen und schluchzte ganz laut. Möglich, dass ein alter Bürger der Stadt so nicht hätte weinen sollen. Lanin hätte es nicht getan, hätte das unwürdig genannt. Was hatte es aber dem armen Ballettänzer genützt, ein würdiger Bürger zu sein? Jetzt saß er einsam in seiner Stube und sehnte sich nach seinem Kinde. Da wollte er wenigstens so unbändig weinen, wie er es zuweilen damals tat, als er noch ein unwürdiger Ballettänzer war und Zerline ihn quälte.
Rosa und Agnes mussten den ganzen Tag über fahren und konnten erst mit der Dunkelheit in Tiglau eintreffen. Als sie durch die Stadt fuhren, steckte Agnes den Kopf zum Wagenfenster hinaus und murrte: »Aha! Da schaut die Sally Lanin zum Fenster hinaus. Die ist mir auch die Rechte! Da geht der flirrige Apotheker und guckt sich nach uns die Augen aus. Guck du nur, du Flidder! Dich brauchen wir nicht mehr.« Rosa mochte nichts sehen. Sie schloss die Augen und lehnte sich in den Wagen zurück. Das Bimbim der Pferdeglocke, das Rattern und Schütteln des Wagens gaben ihr den Trost, dass sie fortgetragen werde von Lanins, Klappekahl, dem Trödler – fort – fort. Erst als die Stadt hinter ihr lag, öffnete sie die Augen und blickte auf das flache, leicht mit Schnee überdeckte Land hinaus, und ihr ward ums Herz wie dem Schwimmer, dem es gelungen ist, sich durch eine schlammige Stelle hindurchzuarbeiten und der nun mit Wonne wieder ins klare Wasser kommt. Die weiße Ruhe ringsum tat dem Mädchen wohl, erregte in ihm das kindliche Hingezogenfühlen zur Natur, das unentwickelte Seelen erst empfinden, wenn sie elend sind. Rosa beneidete die Nebelkrähen, die breitbeinig auf den Feldern spazierengingen und nachdenklich mit den schwarzen Köpfen wackelten. Sie hüpften gleichgültig beruhigt herum, wie Kinder im Elternhause. Wenn der Wagen zu nah an ihnen vorüberfuhr, stießen sie ärgerlich knarrende Laute aus und flogen auf – fort – in den grauen Winterhimmel hinein, einem fernen Waldrande zu, wo sie ihren Platz hatten. »Ja, gut muss es tun, in dieser stillen, reinen Welt seinen Platz zu haben – hier zu Hause zu sein!« dachte Rosa.
An kleinen Landschänken hielt der Wagen, damit die Pferde sich verschnauften. Schmutzige Kinder standen auf den Treppenstufen, hüpften von einem Fuß auf den andern und sahen die Fremden neugierig an. Durch die Haustüre schlug der Rauch des Herdfeuers ins Freie hinaus, und durch die Fenster sah man in kleine, dunkle Stuben hinein. – Gegen Abend begann es zu schneien. Aber durch das krause Wirbeln der Flocken konnte Rosa doch auf den heller werdenden Horizont hinabschauen, ein zartgoldnes Band und ein Stück durchsichtig weißen Himmels. Gegen diese Helligkeit hoben sich ein spitzer Kirchturm und die gradlinigen Massen einiger Häuser dunkel ab. Lichter erwachten dort, trübrote Funken, auf das reine, blasse Himmelsgold gestreut.
»Ist das Tiglau?« fragte Rosa. Agnes fuhr aus dem Schlaf, in den sie versunken war, auf und meinte, freilich sei das Tiglau.
So hatte es sich Rosa gewünscht, verloren im weiten, dämmerigen Lande. Hier musste man Ruhe finden können.
Die ersten Häuser des Marktfleckens zeigten sich schon, ärmliche einstöckige Häuser. Durch die Fenster ohne Vorhänge sah man im Schein einer Petroleumlampe ungekämmte Kinderköpfe – Frauen in zerknitterten Baumwolljacken – nackte Säuglinge auf dem Arm. An den Bretterzäunen, die die Straße einfassten, warfen sich Buben mit Schneeballen, und wenn der Wagen an ihnen vorüberfuhr, hoben sie rote, erfrorene Gesichter zu ihm auf, lachten und pfiffen ihm nach. An den meisten Häusern befanden sich kleine Vorgärten, und dort, zwischen den beschneiten Büschen, standen Männer und sprachen zu dunklen Gestalten hinauf, die sich aus dem Fenster zu ihnen niederbeugten. Die ganze enge Gasse ward von frischem Kichern, von ausgelassenem Kreischen, von einem jugendlich lustigen Treiben belebt, das sich in der Dämmerung gehenließ.
Vor einem dunklen Hause mit spitzem Giebel hielt der Wagen. Die Haustür stand offen. »Hier – hier Kind«, sagte Agnes und führte Rosa durch den finstern Flur. »Ist denn niemand zu Hause? Hier muss die Türe zur Küche sein, das weiß ich noch. Richtig, da ist sie.« – Sie traten in einen dämmerigen Raum. Ein starker Geranium- und Zwiebelgeruch und ein heftiger Zugwind schlugen ihnen entgegen. Die beiden Fenster des Gemaches waren geöffnet, und in einem jeden derselben lag jemand, den Oberkörper hinausbeugend; man unterschied nur zwei faltige Mädchenröcke und vier unruhige Füße, die sich auf die Spitzen stellten. Ein gedämpftes Sprechen – Männer- und Frauenstimmen klangen herüber, zuweilen von einem hellaufprasselnden Gelächter unterbrochen.
»Das ist doch wirklich!« schalt Agnes. »Mädchen, hört ihr denn nicht?« Nein, die Mädchen hörten nicht; Agnes musste kräftig an einem der Röcke ziehen, da erst ward es still. Zwei Gestalten richteten sich mit leisen Schreckensrufen auf, und wie sie sich gegen den hellen Horizont abhoben, erschienen sie Rosa seltsam groß und breit.
»Was macht ihr denn?« zankte Agnes. »Wir stehen hier und rufen, aber niemand hört. Werdet ihr nicht die Fenster schließen, mein Fräulein wird sich erkälten.« Die Mädchen gehorchten, aber große Männerhände wurden von außen hereingestreckt und mussten erst zurückgeschoben werden.
»Du – Martha – bist die ältere«, kommandierte Agnes weiter, »stecke die Kerze an. Ist die Tante nicht daheim? Habt ihr uns heute gar nicht erwartet? Ich schrieb doch.«
Martha beugte sich tief auf das Streichholz nieder, mit dem sie das Licht anmachte, und erwiderte: Doch, die Tante hatte gewartet. Am Nachmittage aber hatte die Bäckerin nach ihr geschickt; sie musste gleich wieder da sein.
»So – so«, meinte Agnes besänftigt und half Rosa ihren Mantel ablegen: »Zieh dich hier aus, Kind, dann gehen wir ins Wohnzimmer hinüber. Gefroren hast du – was? Kommt,