Es war spät geworden, als die drei noch immer in der Küche saßen, eng aneinandergedrängt im warmen Raume, über den das unruhige Licht des Herdfeuers hinflatterte.
Wie die Hausgenossen sich eng aneinanderdrängen, wenn nebenan – im dunklen Zimmer – ein Toter liegt, So saßen Rosa, ihr Vater und Agnes beisammen, und keiner hatte Lust, in die anderen Zimmer hinüberzugehen, es war, als suchten sie in der Küche Schutz vor etwas, das sie dort – im Wohnzimmer – anfallen könnte.
Rosa blickte jedesmal ängstlich auf, wenn Agnes gähnte. Sie fürchtete, Agnes würde schlafen gehen, und die lange, qualvolle Nacht würde beginnen. Es war schon Mitternacht vorüber, als Herr Herz den Vorschlag machte, sich zur Ruhe zu begeben. Agnes ging bereitwillig darauf ein, ja, sie freute sich sichtlich darüber; Rosa aber schien es, als stießen ihr Vater und Agnes sie gleichgültig in das Dunkel einer einsamen, peinvollen Wanderung hinaus – nur weil sie ein wenig schläfrig waren. Sie fand das herzlos und ging – schwer seufzend – in ihre Kammer, um sich wieder mit ihrem wirren, unklaren Schmerz auseinanderzusetzen.
Drittes Kapitel
Der erste Tag war leidlich überwunden durch stetiges Fliehen vor klarem Anschauen der Sachlage, durch mechanisches Weiterleben, ohne das Bewusstsein aus seiner Betäubung erwachen zu lassen. Merkwürdig aber war es, wie Rosa diesen Zustand auch für die folgenden Tage festzuhalten verstand, wie sie ihre Sorgen, das Sich-Auflehnen gegen alles Finstere und Grausame, das ihr Leben zerstörte, zur Ruhe wies – und beiseiteschob mit dem mutlosen Satz: »Es ist eben alles aus.«
Sie beharrte in ihrer nachtwandlerischen Gleichgültigkeit und ließ ihre Gedanken weit abgelegene Wege gehen. Oft durchlebte sie wieder im Geist, mit reiner Freude, ihre Vergangenheit; die Zeiten, da sie ein Schulmädchen war und eine Rolle unter ihren Genossinnen spielte. Nur zuweilen ward sie von der Erinnerung der jüngsten Ereignisse hinterrücks angefallen wie von einem wiedererwachten stechenden Schmerz, und diese Erinnerung machte das arme Mädchen bleich bis in die Lippen. »Nein – nein«, sagte Rosa dann halblaut vor sich hin, als wollte sie diese Bilder von sich abschütteln.
Das Leben in der Herzschen Wohnung nahm wieder seinen gewohnten Gang. Herr Herz gab am Vormittage Turnunterricht; die Mahlzeiten wurden wieder im Speisezimmer eingenommen, und am Abend versammelte sich die Familie um den runden Tisch im Wohnzimmer. In den Klub ging Herr Herz nicht mehr, und seine Wohnung war wie eine Festung gegen die Außenwelt abgeschlossen, nicht einmal Nachrichten drangen von außen hinein, denn Herr Herz sprach nicht mehr von Lanin und Klappekahl. Erzählte er nicht seine alten Theatergeschichten, so schwieg er. Rosa schwieg beständig. Nur in Agnes hatte sich eine ungewöhnliche Gesprächigkeit entwickelt; ihre feste, beruhigende Stimme war die meistgehörte in den jetzt so stillen Räumen.
Während der gleichmäßig verrinnenden Tage kam endlich doch ein Wandel über das leidende Mädchen. Statt der weitabliegenden, nebelhaften Träume begann Rosa sich mit dem Zerlegen der für sie so verhängnisvollen Ereignisse zu beschäftigen; diese Gedanken ließen sich eben nicht mehr abweisen. Das stille, bleiche Kind fing nun unablässig mit sich selbst zu räsonieren und zu rechten an. Rosa hielt im Geiste große Reden, verteidigte sich, als säße sie auf der Anklagebank; war denn diese Unzufriedenheit mit ihrem Los nicht berechtigt gewesen? Der Durst nach Freuden hatte sie kopflos ins Unglück getrieben. War sie schuld daran, dass alles so garstig und schimpflich geendet hatte? Ein jedes Mädchen hätte gehandelt wie sie; ja, auch Sally und Ernestine, wären sie nicht hässlich und schielten. O die, die hatten es leicht, keiner verliebte sich in sie! Und Rosa erging sich in einem bitterbösen Angriff auf diese beiden Damen. Immer neue Gründe stellten sich ein, die bewiesen, dass Fräulein Lanin und Klappekahl arme, verächtliche Wesen seien, die nie eine Leidenschaft erregt oder empfunden hatten. Gut! Rosa wollte Bonne werden, sie war bereit, alles Schwere auf sich zu nehmen, sie erwartete nichts mehr von ihrem Leben, aber gegen ein so armseliges Ding wie Sallys Existenz hätte sie es doch nicht vertauscht. Der Entschluss, fortzugehen, beruhigte Rosa, es brauchte ja nicht gleich zu sein, aber sie wusste, woran sie sich halten konnte. Nur über eines gelangte sie nicht zur Klarheit: Sehnte sie sich nach Ambrosius – glaubte sie noch an ihn – liebte sie ihn noch? Sie wusste es nicht. Diese verwirrte, eingeschüchterte Mädchenseele wagte sich an das Geheimnis ihrer Liebe nicht heran. Der Gedanke an Ambrosius brachte ihr eine beengende Schwüle – sie vermied ihn, er schmerzte zu sehr.
Bei alldem war ihr das stille Leben lieb geworden. Da die ganze Welt ihr feindlich gesinnt war, tat ihr die sichere Ruhe der engen Zimmer wohl, in denen sie nur den zwei altbekannten Gesichtern begegnete, wo sie nie ein verletzendes Wort hörte, wo treue Liebe über jeden ihrer Schritte wachte. Von der inneren Arbeit, vom geistigen Ringen ermüdet, schlief Rosa jetzt auch die Nächte besser und erholte sich. Ihr Gesicht, immer noch sehr weiß, verlor seinen schlaffen Ausdruck, die Augen den Fieberglanz.
»Es geht besser«, sagte Herr Herz zu Agnes. Diese nickte; sie hatte es nicht anders erwartet. »Solch ein junges Ding muss sich wieder aufrichten.«
Eines Morgens stand Rosa besonders gutgelaunt auf. Sie hatte die Nacht über tief und fest geschlafen und von Ambrosius geträumt, aber einen jener seltenen Träume, die uns einen Menschen ohne Verzerrung, in einfacher, lebensvoller Wahrheit vor die Sinne stellen. Ambrosius hatte dort in der Küche gesessen – mit seinem frischen, lächelnden Gesicht, seinen schönen Kleidern. – Er lehnte sich nachlässig in den Stuhl zurück – die Hände auf den Knien – und schaute Rosa mit seinen hellen, klaren Augen an. »Wann fahren Sie?« fragte Agnes, worauf Ambrosius antwortete: »Um vier Uhr – denke ich.«
Da erwachte Rosa, das Herz noch ganz warm von der Stelle frischen, hoffenden Lebens, die jenes Traumwort aufgeregt. Das langsame Sich-Zurücktasten aus dem schönen Traum in die harte Wirklichkeit war zwar bitter, dennoch ließ die Traumwirkung nicht ganz nach. Es regte sich in Rosa wieder die Hoffnung, als müsste heute etwas Erwünschtes geschehen.
Als sie in das Wohnzimmer trat, fand sie es verändert. Des Pfarrers Kastanienbaum, der das Gemach mit seinen Blätterschatten zu erfüllen und das Licht zu mildern pflegte, hatte über Nacht all sein Laub verloren. Der klare Sonnenschein drang unbehindert in das Zimmer und ließ es größer, leerer erscheinen.