»Arnold«, sagte er und drückte mir die Hand, »das Leben ist doch schön!«
Nach dem Frühstück stieg der Assessor mit einigen anderen Herren auf einem Umwege den Berg hinab, um eine von unten herauf schimmernde Marmorader zu untersuchen, die übrigen blieben noch auf der Lagerstelle; Brunken und ich schlenderten in den Wald hinein. Während ich mich hier an einer freien Stelle ins Moos warf, befiel ihn die Kletterlust seiner Jugend; ich sah ihn über mir an einer jungen Buche, wie eine große Spinne von Ast zu Ast hinaufrücken, und nicht lange, so schaukelte er sich im höchsten Wipfel und sang laut über den Wald hinaus. Er war schon mitten in seinem holländischen Lieblingsliede: »Ick see din Bild in de Fonteyn«, oder wie es in der seltsamen Spräche heißen mag, als er plötzlich verstummte. Statt dessen hörte ich Kindergeplauder durch die Bäume und bald sah ich auch Gertrud mit der ganzen Schar heranziehen. Auf meine Einladung lagerte sich alles neben mir auf die weichen Moospolster und die Kinder riefen: »Geschichten erzählen!«
»Was denn erzählen?« fragte Gertrud.
Und die einen wollten von Schneewittchen hören, die andern vom dummen Hansel, bis sich endlich alles in der Geschichte von dem Ungeheuer und der weißen Rose vereinigte. Aber Gertrud kannte die Geschichte nicht. Da, während sie aufs neue die Titel ihres Märchenschatzes auskramte, schwang sich plötzlich Freund Brunken von einem Baumast zur Erde. »Die Geschichte«, sagte er, noch stoßweise mit dem Atem kämpfend, »ist meine Domäne, schöne Dame, ich bitte um die Erlaubnis, sie zu erzählen.« Dann, unter dem Händeklatschen der Kinder, verbeugte er sich tief vor dem jungen Mädchen.
»Und wie, Meister Brunkenius«, sagte diese, »der Sie so unverhofft wie eine reife Frucht vom Baume fallen, wie kommen Sie zu einer solchen Domäne?«
»Ich«, versetzte der Maler, »bin mit dieser Geschichte aufgewachsen, und da ich bekanntlich das normale Maß nicht zu erreichen vermochte, so bin ich niemals über sie hinausgekommen; derohalben glaube ich, sie gründlicher verstehen gelernt zu haben, als ihr anderen großen Menschenkinder.« Er sprach diese Worte mit aufgeregter, unsicherer Stimme; die Wendung, welche die Gedanken unseres Freundes zu nehmen schienen, wollte mir keineswegs gefallen.
Gertrud sagte: »Diese tiefsinnigen Reden gehen freilich über meinen Horizont, aber sie flößen mir hinlänglich Respekt ein; erzählen Sie, ich trete meine Rechte ab.«
Nachdem der Maler hierauf zwischen uns im Moose Platz genommen hatte, begann er zu erzählen. Anfänglich war es die bekannte Geschichte: Das schöne Königstöchterlein, in der richtigen Erkenntnis, daß die Welt sich ihr zu fügen habe, verlangt beim ersten Schneefall eine weiße Rose; und als der gute König selbst sie endlich in einem verzauberten Garten gefunden und selbstverständlich auch gepflückt hat, tritt ihm – wie das schon eher in solchem Fall geschehen – wider alles Erwarten ein Ungeheuer entgegen, dem er als Entgelt das geloben muß, was bei seiner Heimkehr ihm zuerst entgegenkommen werde. Leider geht es ihm, wie dem alten Richter von Israel; das erste, was ihn vor seinem Schlosse begrüßt, ist seine Tochter, und am dritten Tage kommt das Ungeheuer, und holt sich die Prinzessin.
Gertrud unterbrach den Erzähler. »War es denn wirklich so schlimm, Meister Brunkenius?« sagte sie. »Wie sah denn das Ungeheuer aus?«
»Entsetzlich sah es aus!«
»Aber wie denn entsetzlich?«
»Ich weiß nicht; meine Mutter, die mir die Geschichte erzählte, hat es mir nie beschreiben wollen. Aber sahen Sie denn nie ein Ungeheuer, Fräulein Gertrud?«
Sie lächelte. »Was reden Sie doch!«
»Ich weiß wohl, was ich rede, besinnen Sie sich nur!« Und dabei stützte er den borstigen Kopf in seine ausgespreizten Finger, als wolle er sich von ihr betrachten lassen.
Das Mädchen errötete. »Erzählen Sie doch weiter!« sagte sie, und: »Weiter, weiter!« riefen die Kinder, indem sie näher zu ihm herankrochen.
Er warf einen Blick auf die kleine Gesellschaft.
»Ja so«, sagte er, »ihr seid auch noch da. So hört denn!« – Und nun begann er seine Szenen auszupinseln: »Es war eine unabsehbare Wildnis, die sie durchwanderten. Immer höher wucherten Ginster und Heidekraut, aber kein Vogel sang und keine Biene summte; die seidenen Schuhe der Prinzessin zerrissen an den harten Wurzeln, mit denen der Boden übersponnen war. Totenstill lag es über der Steppe, nur dort aus der Ferne, wo eben die Sonne glutrot hinter der schwarzen Heide hinabgesunken war, kam es jetzt herangefahren; das war aber der Nachtwind, der sich aufgemacht hatte, er riß der Prinzessin die weiße Rose aus ihrem blonden Haar und wehte sie fort in die Nacht, die hinter ihnen heraufstieg. Einen Augenblick stand sie still und schloß ihre schönen blauen Augen, und als das Ungeheuer seinen ungestalteten Kopf nach ihr umwandte, sah es nur die langen schwarzen Wimpern auf ihren zarten Wangen liegen. Da streckte es seine Tatze aus und zupfte damit an ihrem weißen Kleide. – Machen Sie nicht so entsetzte Augen, Fräulein Gertrud! Das arme Ungeheuer hatte ja nichts als seine Tatzen. – Aber freilich, als die Prinzessin aufsah, da schauderte sie und grub, wie sie zu tun pflegte, mit ihren weißen Zähnchen in die Lippe, daß sie blutete.«
Die Kinder sahen alle auf Gertrud; denn, wie sie mir später vorplauderten, hatten sie gemeint, daß die Prinzessin mit jedem Zuge ihrer jungen Freundin ähnlicher würde. Auch schien der Erzähler, obgleich er vor sich in das Moos blickte, seine Worte nur an sie zu richten. – »Das«, fuhr er fort, »erbarmte das Ungeheuer, und es wollte ihr ein tröstliches Wort zusprechen; denn ihr wißt wohl, es war selbst nur ein armer verwünschter Prinz. Aber der Laut, der aus seiner Kehle fuhr, war so heiser, als hätte die schwarze Wildnis selbst das Geheul ausgestoßen. Da fiel die Prinzessin vor ihm in die Knie und sah ihn mit entsetzten Augen an, und das Ungeheuer stieß abermals ein Geheul aus, weit grausenhafter als vorhin; denn es war der Schrei einer armen Seele, die nach Erlösung ringt. Es fühlte die innere Wohlgestalt und den edlen Klang der Stimme, die eigentlich sein eigen waren, aber es suchte vergebens die abschreckende Hülle zu sprengen, die alles in bösem Zauberbann verschloß.«
Der Erzähler hielt erschöpft inne, eine unheimliche Erregung brannte in seinen Augen.
»Brunken«, sagte ich; »besinne dich! Ist das ein Kindermärchen, was du da erzählst?«
»Es gilt wenigstens dafür!« erwiderte er.
Aber ehe wir Zeit fanden, unser Gespräch fortzusetzen, bemerkte ich, daß Gertrud aufgestanden war und zwischen den Bäumen fortging. Ich sprang auf. »Erzähle den Kindern deine Geschichte zu Ende!« sagte ich und folgte dem Mädchen, die schon hinter dem niederhängenden Gezweig verschwunden war. Auch fand ich sie bald; in einer kleinen Lichtung sah ich sie am Boden liegen, ihr Gesichtchen in das Moos gedrückt; ich hörte, wie sie wimmernd vor sich hin sprach: »Was fang ich an, was fang ich an!« – Als ich hinzutrat und ihren Arm berührte, sprang sie auf und schüttelte die erhobenen Hände, ganz wie ein verzweifeltes Kind.
»Gerte, was ist?« fragte ich.
»O Gott«, rief sie, ohne von ihrem kindlichen Gebaren abzulassen, »er liebt mich; o, es ist ganz gewiß, daß er mich liebt!«
»Wer denn? Ist denn das so fürchterlich?«
Sie antwortete nicht, sondern sah mich nur mit großen hülflosen Augen an. Da ich aber Miene machte, fortzugehen, ergriff sie meine Hand. »Bleib, Arnold! Ich will’s dir ja sagen, hab doch nur Geduld!«
»Nun so sprich, Gertrud.«
Aber sie schlug die Hände vors Gesicht: »Nein, ich kann’s nicht!« rief sie.
»Weshalb nicht? Bin ich nicht dein alter Kamerad?«
»Arnold – ich