Ich mußte schon nachgeben; und während ich nach der auf der Eisenbahn verwachten Nacht einen erquicklichen Schlaf tat, war Paul zur Stadt gewesen und hatte mein Gepäck aus dem Gasthof herüberschaffen lassen.
Als ich mit Brunken wieder in den Gartensaal trat, wo uns Frau Martha am Kaffeetisch erwartete, klopfte er mich leise auf den Arm und zeigte nach der Terrasse hinaus, zu der auch jetzt die Türen offenstanden. Dort, wo jetzt schon der Schatten des Nachmittags vorgerückt war, wurde augenscheinlich eine Zeichenstunde gegeben. Das hübsche schlanke Mädchen saß eifrig mit dem Bleistift arbeitend an einem Tischchen, während Paul, an ihren Stuhl gelehnt, der kleinen regsamen Hand aufmerksam mit den Augen folgte.
»Nun sieh mir einer diese Hexe!« rief Brunken, »mir läuft sie immer aus der Schule; und seit der Paul da ist, wird Tag für Tag gezeichnet. Versteht er’s denn wirklich schon besser, als ich?«
Der junge Mann errötete; Marie aber sagte ohne aufzublicken: »Paul ist so hübsch geduldig, Onkel!«
Brunken drohte mit dem Finger. »Ich muß wohl eifersüchtig werden!« sagte er, und dabei warf er einen Blick des innigsten Behagens auf das junge Menschenpaar.
Nach dem Kaffee lustwandelte ich mit Brunken in seinem Garten, der sich in beträchtliche Tiefe hinter dem Wohnhause erstreckte. Nachdem wir den Duft der Rebenblüte in einem Glashause eingesogen, auch eine Weile von einem Anberge aus nach der Stadt hinübergesehen hatten, von wo das Glockenläuten des morgenden Sonntags zu uns herüberwehte, ließen wir uns schließlich in einer kühlen Laube nieder. Ich bot meinem Freunde eine Zigarre, die er wie immer verschmähte, und zündete mir dann selbst einen Stengel dieses edlen Krautes an. So begannen wir von der vergangenen gemeinsam verlebten Zeit zu plaudern und kamen endlich auch an jenen Abend, wo er uns auf Nimmerwiederkehr entflohen war. Ich sprach darüber mein Bedauern aus; aber Brunken schüttelte, wie er zum Zeichen der Verneinung zu tun pflegte, seinen langen Finger vor der Nase. »Halt, Doktor«, sagte er, »das war eine heilbringende Nacht!«
»So erzähle!« versetzte ich. »Was hast du damals denn getrieben?«
»Kennst du die Fabel aus Campes Kinderbibliothek: Es war einmal ein dicker fetter Mops?«
»Freilich, der Mops bellte den Mond an.«
»Ich habe auch den Mond angebellt, oder, unbildlich gesprochen, ich habe mit dem Herrgott gescholten, daß er mich so ungeschickt nach seinem Ebenbild erschaffen. – Es war damals ein toller Lebensdrang in mir, und dazu dies Gemengsel von Gliedmaßen, vor dem die Mädel sich grauein, wie vor einer Kreuzspinne; Verehrtester, das ist keine Bagatelle!«
»Aber«, unterbrach ich ihn, »wo war denn der Schauplatz dieses Dramas?«
Mein kleiner Freund legte beide Hände in die Seite und sah mich mit dem Ausdruck einer tragikomischen Verzweiflung an. »Ich war über Feld gerannt«, sagte er, »immer grad zu, durch Korn und Dorn, über Wälle und Gräben; endlich saß ich am Rande einer Trinkgrube. Wie ich später erfuhr, war einige Stunden vorher ein junger Bursche daraus aufgefischt, der in dem schwarzen Wässerchen dort unten die Not des Lebens und nebenbei sich selber zu ertränken versucht hatte. Der Mond schien hell; ich konnte alles um mich her betrachten. Das Gras an meiner Seite war noch mit schwarzem Schlamm überzogen; mitten darin stand ein grober Lederschuh, naß und besudelt. Ich glaube noch jetzt, daß dieser Schuh mich damals über Wasser gehalten hat; denn auch ich war schon dem bösen Zauber verfallen, der in solch einsamen Gewässern spuken geht. Es war nicht düster dort; ein Stern nach dem andern drang aus der Tiefe, und immer mehr, je länger ich hinstarrte. Mich überfiel jenes nichtswürdige Mitleid mit dem lieben Ich; und schon dachte ich: ,Versuch es einmal mit der Welt dort unten; Verlust ist keinesfalls dabei’ – ; da traf mein Blick auf jenen groben Schuh, und, gesegnet sei er, er fing an mir Rätsel aufzugeben. Erstens, es gehörte doch ein zweiter noch dazu; wo mochte sein Kamerade sein? Und dann, er konnte doch nicht allein hierher gegangen sein; wo wanderte sein Herr jetzt mit dem zweiten Schuh? – Unter mir in den Binsen saß freilich ein großer Frosch mit seiner ganzen Gesellschaft und suchte mir die Geschichte vorzusingen. Ich merkte wohl, daß sie von allem Bescheid wußten. Aber du weißt, ich bin immer ein schlechter Linguiste gewesen; ich verstand die Kerle nicht. Doch wie nun alles in der Welt zu Ende geht, so ging auch diese Nacht dahin; der Morgenwind fuhr über die Felder und weckte alle Kreaturen; und als die ersten Lerchen aufstiegen, erschien auch die Sonne am Horizont und beleuchtete mich in all meiner Unsauberkeit; ich konnte es nun deutlich an meinen Kleidern nachbuchstabieren, daß ich nicht bloß durch Hecken und Dornen, sondern auch durch Sümpfe und Gräben hierher gelangt sein mußte. Es schauderte mich ein wenig, ich weiß nicht mehr, ob vor Kälte oder Scham, und ich machte mich daran, die Spuren meiner Torheit nach Möglichkeit zu vertilgen. Dann stieg ich auf den Wall des Grundstücks, um eine vernünftige Landstraße zu erspähen; und nachdem ich nicht nur diese, sondern zu Ende derselben auch ein Dorf unter grünen Bäumen entdeckt hatte, marschierte ich bald zwischen wohlnumerierten Chausseesteinen, wie ein verständiger Mann, der die Kühle der ersten Frühe zu seiner Wanderung benutzt.
In dem Dorfe, das ich dann erreichte, war eben das Tagesleben angebrochen; ich hörte in den Gehöften die Leute zu ihren Pferden reden, die zur Heufuhr an die Wagen gespannt wurden. Mitten in der Dorfstraße, in dem Gärtchen vor seinem Hause, stand ein ältlicher Mann und rauchte behaglich seine Morgenpfeife, in dem ich sogleich den Schulmeister des Dorfes erkannte. Auf meinen ,Guten Morgen’ erhielt ich freundliche Erwiderung und auf meine Frage, wo ich hier ein Frühstück bekommen könne, die Einladung, ins Haus zu treten und mit ihm und seiner Frau den Morgenkaffee einzunehmen. Das tat ich denn, und da die Frau nicht weniger zutraulich war, so saßen wir drei bald im schönsten Plaudern nebeneinander.
Das erste, was ich erfuhr, war die Geschichte jenes Schuhes, bei der mein gütiger Wirt selbst in gewisser Weise beteiligt war. – Als eines Stubenmalers Sohn hielt er die väterliche Kunst noch so weit in Ehren, daß er seinen Schülern wöchentlich eine Stunde Zeichenunterricht erteilte. Er verdiente damit, wie er meinte, freilich weder bei Eltern noch Kindern besonderen Dank; nur der Sohn eines wohlhabenden Bauern, welcher dem Schulhause gegenüber wohnte, hatte so viel Geschick und Eifer gezeigt, daß er bald nicht nur allerlei Dinge, die der Lehrer ihm vorgelegt, nach der Natur gezeichnet, sondern auch zu Hause und auf eigene Hand alles abkonterfeit hatte, was ihm grade in den Weg gekommen. – So weit war alles leidlich gut gegangen, wenn auch der alte Bauer bisweilen über die ,dumme Kritzelei’ gescholten hatte. ,Da mußte das Unglück’, erzählte der Lehrer weiter, ,meinen jüngsten Bruder, welcher bei dem Berufe unseres Vaters geblieben ist, auf ein paar Wochen zum Besuch hieher führen. Er versteht ein wenig mehr, als was zum bloßen Handwerk gehört, und pflegt auch in seinen Mußestunden allerlei Blättchen mit Wasserfarben anzufertigen. Ein paar Zeichnungen des Knaben, die ich ihm zeigte, erregten seine Teilnahme, und so dauerte es nicht bis in den dritten Tag, daß die beiden die dicksten Freunde waren. Jeden Abend haben sie hier am Tisch gesessen zu zeichnen und zu pinseln, und da mein Bruder dem Jungen einen Teil seiner Farben zum Geschenk machte, so setzte dieser das Geschäft nach dessen Abreise fort. Seitdem war nichts mit ihm anzufangen, und endlich erklärte er rund heraus, er wolle Maler werden. Sie können sich den Lärm denken; der Vater, der außer ihm nur eine verheiratete Tochter hat, hatte sich immer der starken Gliedmaßen seines Sohnes gerühmt. Nun wurde er konfirmiert und sollte mit an die Feldarbeit; aber er wollte nicht. Manches Mal hat der Alte ihn mit der Peitsche drüben aus dem Walde geholt, wo er irgendeinen schönen Baum zu Papier brachte, und ihm seinen Zeichenkram vor der Nase entzweigerissen. Aber es half alles nichts; ich redete vergebens zum Frieden; der Junge mit seinen Knochen sollte Bauer werden, der Alte wollte nicht für Fremde so viele Acker Heide urbar gemacht haben. Endlich, vorgestern nachmittag beim Heufahren, wurde dem Faß der Boden ausgestoßen. Der arme Bursche vergaß unsers Herrgotts Gebote und sprang in die Trinkgrube; zum Glück waren seines Vaters Leute in der Nähe, die ihn noch zu rechter Zeit herausholten. Mich selbst und meine Zeichenstunden’, so schloß der Schullehrer seinen Bericht, ,wird diese Geschichte auf lange um allen Kredit gebracht haben.’
Er