Diese stete Orientierung an den Problemen der »richtigen« Staatsverwaltung bedingte einen weitgehenden praktisch-politischen Rationalismus der Intellektuellenschicht des Feudalzeitalters. Im Gegensatz gegen den strengen Traditionalismus der späteren Zeit zeigen uns die Annalen die Literaten gelegentlich als kühne politische Neuerer[240]. Grenzenlos war ihr Bildungsstolz[241] und weitgehend – wenigstens nach der Aufmachung der Annalistik – die Deferenz der Fürsten[242]. Entscheidend für die Eigenart der Literatenschicht war nun ihre intime Beziehung zum Dienst bei patrimonialen Fürsten. Von Anbeginn unserer Kunde an bestand diese. Der Ursprung des Literatentums ist für uns in Dunkel gehüllt. Anscheinend waren sie die chinesischen Auguren und es ist für ihre Stellung der pontifikale, cäsaropapistische Charakter der kaiserlichen Gewalt und der daraus folgende Charakter der Literatur: offizielle Annalen, magisch bewährte Kriegs- und Opfergesänge, Kalender, Ritual- und Zeremonialbücher, das entscheidende Moment gewesen. Sie stützten mit ihrer Wissenschaft jenen kirchlichen Anstaltscharakter des Staats und gingen von ihm als der gegebenen Voraussetzung aus. Sie schufen in ihrer Literatur den »Amts«-Begriff, vor allem das Ethos der »Amtspflicht« und des »öffentlichen Wohls«[243]. Sie sind, wenn der Annalistik einigermaßen getraut werden darf, von Anfang an Gegner des Feudalismus und Anhänger der amtsmäßigen Anstaltsorganisation des Staats gewesen. Ganz begreiflich: weil von ihrem Interessenstandpunkt aus nur der (durch literarische Bildung) persönlich Qualifizierte verwalten sollte[244]. Andererseits nahmen sie für sich in Anspruch, den Fürsten den Weg der militärischen Eigenregie: – eigene Waffenfabrikation und Festungsbau – gewiesen zu haben, als Mittel: »Herr ihrer Länder« zu werden[245].
Diese im Kampf des Fürsten mit den feudalen Gewalten entstandene feste Beziehung zum Fürstendienst scheidet die chinesische Literatenschicht sowohl von der althellenischen wie von der altindischen (Kschatriya-)Laienbildung und nähert sie den Brahmanen an, von denen sie sich jedoch durch ihre rituelle Unterordnung unter den cäsaropapistischen Pontifex einerseits, durch das damit und mit der Schriftbildung eng zusammenhängende Fehlen der Kastengliederung andererseits stark unterscheiden. Die Art der Beziehung zum eigentlichen Amt freilich hat gewechselt. In der Zeit der Feudalstaaten konkurrierten die verschiedenen Höfe um die Dienste der Literaten und sie suchten die Gelegenheit, Macht und – nicht zu vergessen – Erwerb[246] zu finden, da, wo sie am günstigsten war. Es bildete sich eine ganze Schicht vagierender »Sophisten« (tsche-sche), den fahrenden Rittern und Gelehrten des Mittelalters im Okzident vergleichbar. Und es fanden sich auch – wie wir sehen werden – prinzipiell amts frei bleibende Literaten. Dieser freibewegliche Literatenstand war damals der Träger philosophischer Schulbildungen und Gegensätze, wie in Indien, im hellenischen Altertum und bei den Mönchen und Gelehrten des Mittelalters. Dennoch fühlte sich der Literaten stand als solcher als Einheit, sowohl in seiner Standesehre[247] wie als einziger Träger der einheitlichen chinesischen Kultur. Und für den Stand als Ganzes blieb eben die Beziehung zum Fürstendienst als der normalen oder mindestens normalerweise erstrebten Erwerbsquelle und Betätigungsgelegenheit das ihn von den Philosophen der Antike und wenigstens der Laienbildung Indiens (deren Schwerpunkte außerhalb des Amtes lagen) Unterscheidende. Konfuzius wie Laotse waren Beamte, ehe sie amtlos als Lehrer und Schriftsteller lebten, und wir werden sehen, daß diese Beziehung zum staatlichen (»kirchenstaatlichen«) Amt für die Art der Geistigkeit dieser Schicht grundlegend wichtig blieb. Vor allem: daß diese Orientierung immer wichtiger und ausschließlicher wurde. Im Einheitsstaat hörten die Chancen der Konkurrenz der Fürsten um die Literaten auf. Jetzt konkurrierten umgekehrt diese und ihre Schüler um die vorhandenen Aemter und es konnte nicht ausbleiben, daß dies die Entwicklung einer einheitlichen, dieser Situation angepaßten, orthodoxen Doktrin zur Folge hatte. Sie wurde: der Konfuzianismus. Und mit der wachsenden Verpfründung des chinesischen Staatswesens hörte daher die anfänglich so freie Bewegung des Geistes der Literatenschicht auf. Diese Entwicklung war in jener Zeit schon in vollem Gange, als die Annalistik und die meisten systematischen Schriften der Literaten entstanden und als die von Schi Hoang Ti ausgerotteten heiligen Bücher »wiedergefunden«[248] wurden und nun, revidiert, retouchiert und kommentiert von den Literaten, kanonische Geltung erlangten.
Daß diese Gesamtentwicklung mit der Befriedung des Reichs eingetreten oder vielmehr: in ihre Konsequenzen getrieben ist, ergibt die Annalistik klar. Ueberall ist Krieg die Angelegenheit der Jugend gewesen und der Satz: »sexagenarios de ponte« war eine gegen den »Senat« gerichtete Krieger parole. Die Literaten aber waren die »Alten« oder: vertraten sie. Daß er gesündigt habe, indem er auf die »Jungen« (die Krieger) gehört habe, nicht auf die »Alten«, die zwar keine Kraft, aber Erfahrung haben, wird als paradigmatisches öffentliches Bekenntnis des Fürsten Mu Kong (von Tsin) in der Annalistik überliefert[249]. In der Tat: das war der entscheidende Punkt bei der Wendung zum Pazifismus und – dadurch – Traditionalismus: an die Stelle des Charisma trat: die Tradition.
Die klassischen, mit dem Namen des im Jahre 478 v. Chr. verstorbenen Kungtse: Konfuzius, als Redaktor verknüpften Schriften lassen in ihren ältesten Teilen noch die Zustände der charismatischen Kriegskönige erkennen. Die Heldenlieder des Hymnenbuches (Schi-king) singen wie die hellenischen und indischen Epen von wagenkämpfenden Königen. Aber in ihrem Gesamtcharakter sind sie schon nicht mehr, wie die homerischen und germanischen Epen, Verkünder individuellen oder überhaupt rein menschlichen Heldentums. Das Heer der Könige hatte schon zur Zeit der jetzigen Redaktion des Schi-king