In China war die im okzidentalen Mittelalter schon so gut wie völlig erloschene Bedeutung der Sippe sowohl für die lokale Verwaltung der kleinsten Einheiten wie für die Art der ökonomischen Assoziation vollkommen erhalten geblieben und hatte sich sogar in einem Maß entwickelt, wie es anderwärts, auch in Indien, unbekannt geblieben ist. Die patrimoniale Regierung von oben her stieß mit den als Gegengewicht gegen sie fest ausgestalteten Organisationen der Sippen von unten her zusammen. Ein sehr bedeutender Bruchteil aller politisch gefährlichen »geheimen Gesellschaften« bestand bis in die Gegenwart aus Sippen[199]. Die Dörfer hießen vielfach nach dem Namen einer Sippe[200], welche in ihnen ausschließlich oder vorwiegend vertreten war. Oder sie waren Sippenkonföderationen. Die alten Grenzsteine zeigen, daß das Land nicht Einzelnen, sondern den Sippen zugeteilt war und die Sippenkommunion erhielt diesen Zustand in ziemlich weitem Umfang aufrecht. Aus der an Zahl mächtigsten Sippe wählte man den – oft besoldeten – Dorfvorstand. »Aelteste« (der Sippen) standen ihm zur Seite und beanspruchten das Recht der Absetzung. Die einzelne Sippe aber, von der jetzt zunächst zu reden ist, beanspruchte als solche selbständig die Macht, ihr Mitglied zu strafen und setzte dies durch, so wenig die moderne Staatsgewalt es offiziell anerkannte[201].
Der Zusammenhalt der Sippe und seine Bewahrung – trotz der rücksichtslosen Eingriffe der Patrimonialverwaltung mit ihren mechanisch konstruierten Haftungsverbänden, ihren Umsiedelungen, Bodenumteilungen und Gliederungen der Bevölkerung nach ting: arbeitsfähigen Individuen, – beruhte zweifellos ganz und gar auf der Bedeutung des Ahnenkults als des einzigen nicht durch die cäsaropapistische Regierung und ihre Beamten, sondern durch den Hausvorstand als Hauspriester, unter Assistenz der Familie besorgten, aber unzweifelhaft klassischen und uralten »Volkskults«. Schon im »Männerhaus« der militaristischen Urzeit scheinen die Ahnengeister eine Rolle gespielt zu haben, – was beiläufig bemerkt, mit wirklichem Totemismus schwer vereinbar scheint und auf den Gefolgschafts charakter und das daraus entwickelte Erb charisma des Fürsten und der Gefolgen unter der Form des Männerhauses als die älteste als wahrscheinlich zu erschließende Organisationsform hinweisen könnte[202]. Wie dem sei: in historischer Zeit war von jeher der Glaube an die Macht der Ahnengeister, nicht nur der eignen[203], aber vor allem der eignen, an ihre rituell und literarisch bezeugte Vermittler-Rolle für Wünsche der Nachfahren beim Himmelsgeist oder -Gott[204], an die unbedingte Notwendigkeit, sie durch Opfer zu befriedigen und günstig zu stimmen, der schlechthin grundlegende Glaube des chinesischen Volks. Die Ahnengeister der Kaiser waren die nahezu gleichgeordneten Gefolgschaft des Himmelsgeistes[205]. Ein Chinese, der keinen männlichen Nachfahren hatte, mußte unbedingt zur Adoption schreiten, und wenn er dies unterließ, so nahm die Familie eine posthume fiktive Adoption für ihn vor[206], – weniger in seinem, als in ihrem eignen Interesse: um Ruhe vor seinem Geist zu haben. Die soziale Wirkung dieser alles beherrschenden Vorstellungen liegt klar zutage. Zunächst die ungeheure Stärkung der patriarchalen Gewalt[207]. Dann aber der Zusammenhalt der Sippe als solcher. In Aegypten, wo der Toten– aber nicht: der Ahnen-Kult alles beherrschte, zerbrach ebenso (aber ganz erheblich früher) wie in Mesopotamien der Zusammenhalt der Sippe unter dem Einfluß der Bürokratisierung und des Fiskalismus. In China erhielt und stärkte er sich und wuchs zu einer den politischen Herrengewalten ebenbürtigen Macht empor.
Im Prinzip jede Sippe hatte (und zwar bis in die Gegenwart hinein) ihre Ahnenhalle[208] im Dorf. Außer den Kultparamenten enthielt sie oft eine Tafel der von der Sippe anerkannten »Moralgesetze«. Denn das Recht, sich selbst Statuten zu geben, war für die Sippe faktisch nie bezweifelt und wirkte nicht nur praeter, sondern – sogar in Ritualfragen – unter Umständen auch contra legem[209]. Die Sippe stand nach außen solidarisch zusammen. Existierte auch, außerhalb des Kriminalrechts, wie erwähnt, Solidarhaft nicht, so pflegte sie doch, wenn möglich, die Schulden eines Mitglieds zu ordnen. Unter Vorsitz des Aeltesten verhängte sie nicht nur Prügel und Exkommunikation – welche bürgerlichen Tod bedeutete – sondern, wie der russische Mir, auch Strafexil. Das oft starke konsumtive Leihebedürfnis wurde gleichfalls wesentlich innerhalb der Sippe befriedigt, wo die Nothilfe als sittliche Pflicht besitzender Mitglieder galt. Freilich mußte auch einem Nichtmitglied, bei hinlänglich vielen Kotaus, geliehen werden: denn man konnte nicht riskieren, die Rache des Geistes des Verzweifelnden, wenn er Selbstmord beging, auf sich zu ziehen[210]. Und freiwillig scheint niemand leicht zurückgezahlt zu haben, am wenigsten dann, wenn er eine starke Sippe hinter sich wußte. Immerhin: eine klar geregelte Nothilfepflicht und Kreditbeihilfe war primär nur innerhalb der Sippe gegeben. Die Sippe führte nötigenfalls Fehden nach außen[211]: die rücksichtslose Tapferkeit hier, wo es sich um persönliche Interessen und persönliche Verbundenheit handelte, kontrastierte auf das augenfälligste mit der vielberufenen »Feigheit« der aus gepreßten Rekruten oder aus Söldnern bestehenden Heere der Regierung. Die Sippe sorgte nötigenfalls für Medikamente, Arzt und Begräbnis, versorgte die Alten und Witwen, vor allen Dingen: die Schulen. Die Sippe besaß Eigentum, vor allem: Grundeigentum (»Ahnenland«: schi tien[212] und, bei wohlhabenden Sippen, oft umfangreiches Stiftungsland. Sie verwertete dies durch Verpachtung (meist durch Auktion auf 3 Jahre), Veräußerungen davon galten nur bei Dreiviertelmehrheit für zulässig. Der Ertrag wurde an die Hausväter verteilt. Typisch so: daß alle Männer und alle Witwen eine Einheit, vom 59. Jahr an zwei, vom 69. an drei Einheiten erhielten. Innerhalb der Sippe galt eine Kombination erbcharismatischer und demokratischer Prinzipien. Alle verheirateten Männer hatten gleiches Stimmrecht, die nichtverheirateten Männer nur beratende Stimmen, die Frauen waren, wie vom Erbe (sie hatten nur Mitgiftanspruch), so von den Sippenberatungen ausgeschlossen. Als Verwaltungsausschuß fungierten die Aeltesten, nach Erb stämmen, aber: von allen Sippengenossen als Wählern, jährlich gekoren, welche die Einkünfte einzuziehen, den Besitz zu verwerten