Gemeinsamer Erwerb von Land durch Kauf oder Pacht und Verteilung an die Hausväter war bis in die Gegenwart üblich. Mandarine, Kaufleute oder sonst endgültig vom Land Verziehende wurden abgefunden, erhielten einen Auszug aus dem Familienbuch als Ausweis, blieben der Sippenjurisdiktion unterworfen, konnten aber ihr Anteilsrecht zurückkaufen. Wo noch die alten Verhältnisse herrschten, ging Erbland selten in fremde Hände über. Die Hausspinnerei, -weberei und -schneiderei der Frauen ließ ein selbständiges Textilgewerbe nur in mäßigem Umfang aufkommen, zumal die Frauen auch für den Absatz arbeiteten[213]. Auch die Kopf- und Fußbekleidung waren meist Hausprodukte. Da die Sippe 1) auch Trägerin der für den Einzelnen wichtigsten Feste (meist zweimal jährlich für die Ahnen) und Objekt der von den Hausvätern zu schreibenden Familiengeschichte war, da es 2) noch bis in die Gegenwart als Sache der Sippe galt, dem Lehrling und mittellosen Lohnwerker gegen sehr billigen Zins das Kapital darzuleihen, um zum »selbständigen« Handwerker aufzusteigen, da ebenso 3) wovon schon gesprochen ist: die Sippenältesten die jungen Leute auswählten, welche sie für das Studium für qualifiziert hielten und die Vorbereitungs-, Prüfungs- und Amtskauf-Kosten verschafften, – so bedeutete offensichtlich dieser Verband neben einer starken ökonomischen Stütze für die Versorgungsautarkie der Haushaltungen, also: für Beschränkung der Entfaltung des Marktes, sozial: schlechthin das Ein und Alle für die Existenz seiner Mitglieder, auch die in der Fremde, insbesondre in der Stadt lebenden[214].
Die »Stadt« war, wie im allgemeinen schon früher angedeutet, eben infolgedessen nie die »Heimat«, sondern eigentlich die typische »Fremde« für die Mehrzahl ihrer Einwohner. Um so mehr als sie sich vom Dorf, von dem nun zu sprechen ist, durch den früher erwähnten Mangel an organisierter Selbstverwaltung unterschied. Man kann, ohne allzugroße Uebertreibung, sagen, daß die chinesische Verwaltungsgeschichte ausgefüllt ist von dem stets erneuten Streben der kaiserlichen Verwaltung, sich auch außerhalb der Stadtbezirke zur Geltung zu bringen. Abgesehen von Kompromissen in der Steuerleistung aber gelang ihr dies nur auf kurze Zeiten und konnte, bei der ihr eigenen Extensität, dauernd auch nicht gelingen. Diese Extensität: die geringe Zahl der wirklichen Beamten, war bedingt durch die Finanzen (und bedingte ihrerseits wieder deren Lage). Die offizielle kaiserliche Verwaltung blieb, der Sache nach, eine Verwaltung von Stadtbezirken und Stadtunterbezirken. Hier, wo ihr die massiven Blutsverbände der Sippen nicht so wie draußen gegenüberstanden, konnte sie – wenn sie sich mit den Gilden und Zunften verhielt – effektiv wirken. Außerhalb der Stadtmauern hörte ihre Gewalt sehr schnell auf, wirklich effektiv zu sein. Denn neben der an sich schon großen Gewalt der Sippen stand hier auch noch die organisierte Selbstverwaltung des Dorfes als solchen ihr gegenüber. Da auch Bauern zahlreich in den Städten wohnten, diese also meist »Ackerbürgerstädte« waren, so besteht nur der verwaltungstechnische Unterschied: »Stadt« gleich Mandarinensitz ohne Selbstverwaltung, – »Dorf« gleich Ortschaft mit Selbstverwaltung ohne Mandarinen!
Die dorfmäßige Siedelung[215] als solche beruhte in China auf dem Bedürfnis nach Sicherheit, welches die jedes Begriffs von »Polizei« ermangelnde extensive Verwaltung des Reichs niemals hat befriedigen können. Die Dörfer waren meist befestigt, ursprünglich und, wie es scheint, oft noch heute: pallisadiert, wie die alten Städte, häufig aber auch: ummauert. Sie stellten, zur Ablösung der Reih-um-gehenden Wachtpflicht (s. gleich) die besoldeten Wächter an. Von der »Stadt« unterschieden sie sich – zuweilen viele Tausende von Einwohnern zählend – eben dadurch: daß sie selbst diese Funktionen wahrnahmen und dazu, im Gegensatz zur Stadt[216], ihr Organ hatten. Dies war, da ein »Korporations«-Begriff dem chinesischen Recht und vollends den Denkgewohnheiten der Bauern natürlich völlig fehlte: – der Dorftempel[217], der in der Neuzeit meist irgendeinem der populären Götter: dem General Kwan Ti (Kriegsgott), dem Pah Ti (Handelsgott), dem Wan Tschang (Gott der Schulen), dem Lang Wang (Regengott), dem Tuti (einem unklassischen Gott, dem wegen der »Conduite« des Toten im Jenseits jeder Todesfall notifiziert werden mußte) usw. dediziert zu sein pflegte, – welchem? scheint ziemlich gleichgültig gewesen zu sein. Denn ähnlich wie im klassischen Altertum des Okzidents beschränkte sich die »religiöse« Bedeutung des Tempels[218] auf wenige rituelle Manipulationen und gelegentliche Gebete einzelner und hatte er im übrigen seine Bedeutung nur in profanen sozialen und rechtlichen Vorgängen.
Der Tempel hatte, wie die Ahnenhalle, Eigentum, vor allem: Grundeigentum[219]. Aber sehr oft auch Geldbesitz, den er zu nicht immer niedrigen Zinsen[220]auslieh. Der Geldbesitz stammte vor allem aus den traditionellen Marktabgaben: die Marktstände standen von altersher, wie fast überall in der Welt, unter dem Schutz des Lokalgotts. Das Tempelland wurde, wie das Ahnenland, verpachtet, und zwar vorzugsweise an die Besitzlosen des Dorfes, die daraus entspringenden Renten und überhaupt alle Einkünfte des Tempels wurden jährlich ebenfalls an Einnahmepächter vergeben, der nach Abzug der Kosten bleibende Reinertrag verteilt. Die Wahrnehmung der Tempelverwalterstellen war, scheint es, meist eine Leiturgie der Hausväter des Dorfes: sie gingen reihum von Haus zu Haus; das Dorf war dazu in Bezirke von 100-500 Einwohnern geteilt. Neben diesen Verwaltern aber standen die »Honoratioren« des Dorfs: die Sippenältesten und Literaten, mit – nominellen – Remunerationen. Nur sie erkannte die jeder Legalisierung von Korporationen oder Korporationssurogaten abgeneigte politische Regierung als Vertreter des Dorfs an. Sie ihrerseits aber handelten im Namen »des Tempels«. Der »Tempel« schloß durch sie Kontrakte für das Dorf ab. Der »Tempel« hatte Gerichtsbarkeit in Bagatellsachen und usurpierte sehr oft solche in Sachen aller Art, ohne daß die Regierung – außer bei Staatsinteressen – intervenierte. Dies Gericht, nicht die staatliche Gerichtsbehörde, genoß das Vertrauen der Bevölkerung. Der »Tempel« sorgte für Straßen, Kanäle, Verteidigung, polizeiliche Sicherheit, – durch Turnus-Wachtpflicht, die faktisch meist abgelöst wurde, – Verteidigung gegen Räuber oder Nachbardörfer, für Schule, Arzt, Medikamente, Begräbnis, soweit die Sippen dies nicht tun konnten oder wollten. Der Dorftempel enthielt das Waffendepot des Dorfs. Durch den Dorftempel, der in dieser Funktion der »Stadt« fehlte, war das Dorf rechtlich und faktisch als Kommunalkörper aktionsfähig. Vor allem: das Dorf, nicht aber die Stadt, war ein, im Umkreis der Interessen der Dorfbewohner, tatsächlich wehrhafter Verband.
Nicht immer hat sich die Regierung derart auf den laissezfaire-Standpunkt gegenüber dieser inoffiziellen Selbstverwaltung gestellt, wie in der letzten Zeit des alten Regims. Unter den Han versuchte sie z.B. den reinen patrimonialen Absolutismus Schi Hoang Ti's durch geordnete Heranziehung der Gemeindeältesten zu Selbstverwaltungsämtern (san lao) abzubauen und die urwüchsige Selbstverwaltung so zu reglementieren und zu legalisieren[221]. Der Dorfvorsteher (Schou saih yen) sollte gewählt und bestätigt werden, unter Garantie der Grundbesitzer für seine gute Aufführung: nur gelegentlich aber ging das wirklich so zu. Und die Regierung ignorierte auch immer wieder das Dorf als Einheit. Denn immer wieder schlugen die reinen fiskalischen Interessen durch. Wang An Schi insbesondere rationalisierte, wie schon in andern Zusammenhang erwähnt, das System unter diesem Gesichtspunkte. Formal hatten noch heute je 10 Familien, als »pai« zusammengefaßt, ihren Obmann, je 100: jede »chia«, ihr Haupt: po chia, gewöhnlich »tipao« genannt. An jedem Haus sollte in Dorf und Stadt ein Plakat kleben (und klebte auch tatsächlich da, wo die Tradition lebte), welches die Hausnummer, chia, pai, Eigentümer, Namen des Familienhauptes, Geburtsort (Heimatsrecht) der Familie, ihre Glieder und Mieter und deren Beruf, abwesende Glieder (seit wann?), die Pachtrente, Steuerpflicht, Zahl der selbst bewohnten und der vermieteten Räume enthielt. Für die Polizei und Aufsicht auf Verbrecher und Geheimklubs haftete offiziell der po chia. Nicht zu seinen unwichtigsten Aufgaben gehörte die Verantwortlichkeit für die Durchführung der später zu besprechenden kaiserlichen Religions polizei. – Dieser Selbstverwaltungsbeamte (tipao) sollte die Verbindung zwischen dem obrigkeitlichen und dem Selbstverwaltungs-Regiment herstellen. Er pflegte sich namentlich, wo und