Die Justiz blieb demgemäß weitgehend »Kadi«-und eventuell »Kabinet«-Justiz[233]. Das war zwar, den unteren Klassen gegenüber, z.B. auch in der Friedensrichterjustiz Englands der Fall. Aber für die kapitalistisch wichtigen Vermögenstransaktionen bestand dort das unter dem stetigen, schon durch die Rekrutierung der Richter aus den Advokaten garantierten, Einfluß der Interessenten geschaffene, nicht rationale, aber berechenbare und der Vertragsautonomie weitgehenden Spielraum gebende Präjudizienrecht mit der ihm entsprechenden Kautelarjurisprudenz. In der patriarchalen chinesischen Justiz war dagegen für Advokaten im okzidentalen Sinn gar kein Platz. Als Anwälte fungierten für die Sippengenossen etwaige literarisch gebildete Mitglieder; sonst fertigte ein Winkelkonsulent die Schriftsätze. Es war eben die in allen spezifischen Patrimonialstaaten, am meisten in den theokratischen oder ethisch-ritualistischen Patrimonialstaaten orientalischen Gepräges, wiederkehrende Erscheinung: daß zwar neben der wichtigsten, aber nicht »kapitalistischen« Quelle der Vermögensakkumulation: der rein politischen Amts- und Steuerpfründe, auch »Kapitalismus«: der Kapitalismus der Staatslieferanten und Steuerpächter, also: politischer Kapitalismus, blühte und unter Umständen wahre Orgien feierte, daß ferner auch der rein ökonomische, d.h. vom »Markt« lebender Kapitalismus des Händlertums sich entwickeln konnte, – daß dagegen der rationale gewerbliche Kapitalismus, der das Spezifische der modernen Entwicklung ausmachte, unter diesem Regime nirgends entstanden ist. Denn die Anlage von Kapital in einem gewerblichen »Betrieb« ist viel zu empfindlich gegen die Irrationalitäten dieser Regierungsformen, und viel zu sehr auf die Möglichkeit angewiesen, das gleichmäßige rationale Funktionieren des staatlichen Apparats nach Art einer Maschine kalkulieren zu können, um unter einer Verwaltung chinesischer Art entstehen zu können. Aber warum blieb diese Verwaltung und Justiz so (kapitalistisch angesehen) irrational? – dies ist die entscheidende Frage. Einige im Spiel befindliche Interessen lernten wir kennen. Aber sie bedürfen der vertieften Erörterung.
Wie die von materialer Individualisierung und Willkür unabhängige Justiz, so fehlten für den Kapitalismus auch politische Vorbedingungen. Es fehlte zwar nicht die Fehde: – im Gegenteil ist die ganze Geschichte Chinas voll von großen oder kleinen Fehden bis zu den massenhaften Kämpfen der einzelnen Dorfverbände und Sippen. Aber es fehlte, seit der Befriedung im Weltreich, der rationale Krieg und, was noch wichtiger war, der diesen ständig vorbereitende bewaffnete Friede mehrerer miteinander konkurrierender selbständiger Staaten gegeneinander und die dadurch bedingten Arten von kapitalistischen Erscheinungen: Kriegsanleihen und Staatslieferungen für Kriegszwecke. Die partikulären Staatsgewalten des Okzidents mußten um das freizügige Kapital konkurrieren, in der Antike (vor dem Weltreich) sowohl wie im Mittelalter und der Neuzeit. Wie im römischen Weltreich, so fiel das auch im chinesischen Einheitsreich fort[234]. Ebenso fehlten diesem die Uebersee-und Kolonialbeziehungen. Das bedeutete ein Hemmnis für die Entfaltung auch aller derjenigen Arten von Kapitalismus, welcher im Okzident der Antike und dem Mittelalter mit der Neuzeit gemeinsam war: jener Abarten des Beutekapitalismus, wie sie der mittelländische, mit Seeraub verbundene Ueberseehandels-und der Kolonialkapitalismus darstellten. Dies beruhte zum Teil auf den geographischen Bedingungen eines großen Binnenreichs. Aber zum Teil waren, wie wir sahen, die Schranken der Ueberseeausdehnung auch umgekehrt Folge erscheinungen des allgemeinen politischen und ökonomischen Charakters der chinesischen Gesellschaft.
Der rationale Betriebskapitalismus, dessen spezifische Heimat im Okzident das Gewerbe wurde, war eben außer durch das Fehlen des formal garantierten Rechts und einer rationalen Verwaltung und Rechtspflege und durch die Folgen der Verpfründung auch durch das Fehlen gewisser gesinnungsmäßiger Grundlagen gehemmt worden. Vor allem durch diejenige Stellungnahme, welche im chinesischen »Ethos« ihre Stätte fand und von der Beamten- und Amtsanwärterschicht getragen wurde. Davon zu reden ist unser eigentliches Thema, zu dem wir nunmehr endlich gelangen.
V. Der Literatenstand.
In China bestimmte seit zwölf Jahrhunderten, weit mehr als der Besitz, die durch Bildung, insbesondere: durch Prüfung, festgestellte Amtsqualifikation den sozialen Rang. China war das Land, welches am exklusivsten, noch weit exklusiver als die Humanistenzeit Europas oder als zuletzt Deutschland, die literarische Bildung zum Maßstab sozialer Schätzung gemacht hatte. Schon im Zeitalter der Teilstaaten, reichte die literarisch – das hieß zunächst nur: durch Schrift kenntnis – vorgebildete Amtsanwärterschicht, als Träger der Fortschritte zur rationalen Verwaltung und aller »Intelligenz«, durch die sämtlichen Teilgebilde hindurch und bildete – wie das Brahmanentum in Indien – den entscheidenden Ausdruck der Einheitlichkeit der chinesischen Kultur. Solche Gebiete (auch: Enklaven) welche nicht nach dem Muster der orthodoxen Staatsidee von literarisch geschulten Beamten verwaltet wurden, galten der Staatstheorie als heterodox und barbarisch, ganz ebenso wie die nicht von Brahmanen reglementierten Stammesgebiete innerhalb des Gebietsbereichs des Hinduismus diesem, oder wie die nicht als Polis organisierten Landschaften dem Hellenen dafür galten. Diese zunehmende bureaukratische Struktur der politischen Gebilde und seiner Träger hat auch den Charakter der ganzen literarischen Ueberlieferung geprägt.
Die – mit Unterbrechungen und unter oft heftigen Kämpfen, aber doch stets erneut und stets zunehmend – herrschende Schicht in China sind und waren, endgültig seit reichlich zweitausend Jahren, die Literaten. Sie, und nur sie, redete, 1496 nach der Annalistik zum erstenmal, der Kaiser mit »meine Herren« an[235]. Es ist nun von unermeßlicher Wichtigkeit für die Art der Entwicklung der chinesischen Kultur gewesen, daß diese führende Intellektuellenschicht niemals den Charakter der Kleriker des Christentums oder Islam, auch nicht der jüdischen Rabbinen, auch nicht der indischen Brahmanen oder der altägyptischen Priester oder der ägyptischen oder indischen Schreiber gehabt hat. Sondern daß sie herausgewachsen ist zwar aus ritueller Schulung, doch aber aus einer vornehmen Laien bildung. Die »Literaten« des Feudalzeitalters, damals offiziell: puo tsche, »lebendige Bibliotheken«, genannt, waren zwar vor allem Kenner des Rituals. Aber im Gegensatz zu Indien waren sie weder aus Priesteradelsgeschlechtern (wie die Rischi-Sippen des Rigveda) noch aus einer Zauberergilde (wie, wahrscheinlich, die Brahmanen des Atharva-Veda) hervorgegangen, sondern, wenigstens dem Schwerpunkt nach, Abkömmlinge, meist wohl jüngere Söhne, feudaler Familien, welche sich literarische Bildung, vor allem: Schriftkunde, angeeignet hatten und deren soziale Stellung auf dieser Schrift-und Literaturkunde beruhte. Die Schriftkunde konnte sich – wenn auch bei dem chinesischen Schriftsystem nur schwer – auch ein Plebejer aneignen, und dann nahm er an dem Prestige des Schriftgelehrtentums teil: es ist schon in der Feudalzeit die Literatenschicht kein erblicher Stand und nicht exklusiv gewesen, im Gegensatz zu den Brahmanen. Im Gegensatz zur wedischen Bildung, welche bis tief in historische Zeiten auf der Ueberlieferung von Mund zu Mund beruhte und die schriftliche Fixierung der Tradition, wie alle zunftmäßige Kunst von Berufsmagiern dies zu tun pflegt, geradezu perhorreszierte, reicht die Schriftlichkeit der Ritualbücher, des Kalenders und der Annalistik in China in vorgeschichtliche Zeiten zurück[236]. Schon der ältesten Ueberlieferung galten die alten Schriften als magische Objekte[237] und die Schriftkundigen als Träger magischen Charismas. Und, wie wir sehen werden, ist dies so geblieben. Aber nicht das Charisma magischer Zauberkraft, sondern die Schrift- und Literaturkenntnis als solche, daneben ursprünglich vielleicht astrologische Kenntnisse,