III. Soziologische Grundlagen. C. Verwaltung und Agrarverfassung.
Die ganz außerordentliche Entwicklung und Intensität des chinesischen Erwerbstriebs schon seit langer Zeit unterliegt nicht dem allergeringsten Zweifel. Seine Vehemenz und – soweit Nicht-Sippengenossen in Betracht kamen – Skrupellosigkeitwar, von den Ausnahmen der durch die Monopolgilden im Geschäftsinteresse ethisch stark temperierten Groß- und (besonders) Außenhändler abgesehen, jeder Konkurrenz anderer Völker gewachsen. Der Fleiß und die Arbeitsfähigkeit der Chinesen galt immer als unerreicht. Die Organisationen der Handelsinteressenten in ihren Gilden waren, sahen wir, so machtvoll wie in keinem Lande der Erde, ihre Autonomie faktisch fast unbeschränkt. Bei einer so riesigen Bevölkerungszunahme, wie sie China seit Anfang des 18. Jahrhunderts erlebte, in Verbindung mit stetiger Vermehrung der Edelmetallvorräte, müßte man nach europäischen Begriffen eine sehr günstige Chance für die Entwicklung von Kapitalismus annehmen. Immer wieder gelangen wir zu dem Problem zurück, welches an die Spitze dieser Erörterungen gestellt wurde. Einige Erklärungsgründe für die Tatsache, daß trotzdem die kapitalistische Entwicklung ausblieb, sind vorstehend schon beigebracht. Aber damit können wir uns noch nicht begnügen. – Die auffallendste und im schroffsten Gegensatz gegen den Okzident stehende Erscheinung in der Entwicklung Chinas ist: daß nicht, wie in England, eine (relative) Abnahme, sondern eine ungeheure Zunahme der ländlichen, bäuerlichen Bevölkerung die Epoche seit Beginn des 18. Jahrhunderts kennzeichnet, daß auch nicht, wie im deutschen Osten, landwirtschaftliche Großbetriebe, sondern bäuerliche Parzellenbetriebe zunehmend das Gesicht des Landes bestimmten, daß schließlich, damit zusammenhängend, der Rindviehstand ganz gering, das Schlachten von Rindern selten (eigentlich nur zu Opferzwecken) war, Milchgenuß fehlte und »Fleisch essen« soviel hieß wie »vornehm sein« (weil es Teilnahme am Opferfleischgenuß, der den Beamten zukam, bedeutete). Woher das Alles?
Die Entwicklung der chinesischen Agrarverfassung[160] zu schildern wäre für den Nicht-Sinologen nach dem Stand der ihm zugänglichen Quellen durchaus unmöglich. Sie ist für unseren Zusammenhang auch nur soweit zu berücksichtigen, als sich in der Problematik der chinesischen Agrarpolitik die Eigenart des Staatswesens aussprach. Denn jedenfalls dies ist auf den ersten Blick unverkennbar: daß die tiefgehendsten Wandlungen der Agrarverfassung durch die Umgestaltung der Militär- und Fiskalpolitik der Regierung bedingt wurden. Die chinesische Agrargeschichte zeigt aus eben diesem Grunde ein monotones Hin und Her zwischen verschiedenen gleich möglichen Prinzipien der Besteuerung und der aus ihr folgenden Behandlung des Bodenbesitzes, die mit innerer »Entwicklung« keinerlei Verwandtschaft hat, seitdem der Feudalismus zerschlagen war.
Im Feudalzeitalter waren die Bauern zweifellos, mindestens zum Teil – wennschon keineswegs notwendiger- oder nur wahrscheinlicherweise alle[161] –, Hintersassen der Feudalherren, denen sie Abgaben und zweifellos auch Dienste leisteten. Der von der Annalistik mit kien ping bezeichnete Zustand, daß sich die Bauern infolge kriegerischer Bedrohung und Unsicherheit oder infolge von Steuer- oder Darlehensüberschuldung um die Höfe der besitzenden Schichten »zusammengedrängt«, d.h. sich ihnen als Klienten (tien ke) kommendiert hatten, wurde von der Regierung in aller Regel scharf bekämpft. Man suchte die Immediatsteuerpflicht der Bauern aufrecht zu erhalten, vor allem aber das Aufkommen einer politisch gefährlichen Grundherrenkaste zu hindern. Immerhin bestand unter den Han nach ausdrücklichen Berichten[162] mindestens zeitweise der Zustand: daß die Grundherren die Steuer für ihre Kolonen zahlten. Ebenso wie der Militärmonarch Schi Hoang Ti, suchte auch der Militär-»Usurpator« Wang Mang diese Stellung der Grundherren durch Einführung des kaiserlichen Bodenregals zu vernichten, – aber anscheinend vergeblich. Inwieweit es Anfänge einer Fronhofswirtschaft okzidentaler Art gegeben hat, wissen wir nicht. Doch ist es jedenfalls unwahrscheinlich, daß sie – soweit sie nachweisbar sein sollte – als typische Erscheinung anzusehen wäre, und erst recht: daß sie als Folge des Feudalismus zu gelten hätte. Denn die Art der rechtlichen Behandlung der Lehen macht es unsicher, ob sie die Grundlage für eigentliche Grundherrschaften okzidentalen Gepräges darstellen konnten. Die einem Nichtfachmann zugänglichen Quellen lassen auch nichts. Sicheres über die Art der Feldgemeinschaft erkennen und es muß zweifelhaft bleiben, ob und eventuell wie sie mit dem Feudalsystem – wie es in typischer Art der Fall zu sein pflegt[163]– im Zusammenhang stand oder vielmehr – wie so oft – fiskalischen Ursprungs war. Dies wäre an sich wohl möglich. Unter der Tang-Dynastie z.B. wurden 624 zu Steuerzwecken die Bauern nach kleinen Verwaltungsbezirken (hiang) gegliedert und innerhalb dieser ihnen bestimmte Besitzeinheiten garantiert und eventuell aus Staatsland zugewiesen[164]. Der Austritt und – in diesem Fall – der Verkauf des Landes war zwar gestattet, setzte aber den Einkauf in eine andere Steuergemeinschaft voraus. Bei dieser nur relativen Geschlossenheit der Grundbesitzerverbände ist es aber ganz unzweifelhaft oft nicht geblieben. Die höchst radikalen Umgruppierungen der Bevölkerung in solidarisch haftende Steuer-, Fron- und Aushebungs-Verbände läßt es als ganz sicher erscheinen, daß die, von der Annalistik auch ausdrücklich erwähnte, Pflicht zur Bodenbestellung (im fiskalischen Interesse) stets erneut als das Primäre, das entsprechende »Recht« auf Land als das daraus Abgeleitete galt. Es scheint nun aber nicht, daß daraus eine, sei es den germanischen, sei es den russischen, sei es den indischen Verhältnissen entsprechende Kommunionwirtschaft der Dörfer entstanden ist. Die Existenz von Dorfallmenden im Sinn der okzidentalen Verhältnisse kann nur als eine Erscheinung der fernen Vergangenheit aus gelegentlichen Andeutungen erschlossen