Rückschläge in den Feudalismus sind auch weit später noch eingetreten. In der Epoche Se Ma Tsien's (2. Jahrhundert vor Chr.), unter den Kaisern Tschu fu yen und U, mußte der neuerstandene Feudalismus abermals niedergeworfen werden, der zuerst aus der Verlehnung von Aemtern an kaiserliche Prinzen wieder entstanden war. Zunächst wurden kaiserliche Ministerresidenten an die Höfe der Vasallen zur Ueberwachung geschickt, dann die Ernennung aller Beamten an den kaiserlichen Hof gezogen, dann (127 vor Chr.) die Erbteilung der Lehen verfügt, um die Macht der Vasallen zu schwächen, schließlich (unter U) niedrig Geborenen (darunter einem gewesenen Schweinehirten) die bisher vom Adel beanspruchten Hofämter verliehen. Gegen die letzte Maßregel opponierte der Adel heftig, die Literaten aber setzten (124 vor Chr.) durch, daß ihnen die hohen Aemter vorbehalten blieben. Wir werden später sehen, wie in diese für Chinas politische und kulturliche Struktur entscheidenden Kämpfe der Gegensatz der konfuzianischen Literaten gegen den – damals mit den Aristokraten, später mit den Eunuchen verbündeten, literatenfeindlichen und der Volksbildung im Interesse ihrer Magie abgeneigten – Taoismus hineinspielte. Zum endgültigen Austrag kam der Kampf auch damals nicht. In der Standesethik des Konfuzianismus wirkten feudale Reminiszenzen stark nach. Für Konfuzius selbst darf als unausgesprochene, aber selbstverständliche, Voraussetzung unterstellt werden: daß die klassische Bildung, welche er als entscheidende Voraussetzung der Zugehörigkeit zum Herrenstande verlangte, der Tatsache nach auf die herrschende Schicht der überlieferten »alten Familien« beschränkt sei, zum mindesten der Regel nach. Auch der Ausdruck: Kiün tse, »fürstlicher Mann«, für den konfuzianisch Gebildeten stammt – ursprünglich den »Helden«, aber allerdings schon bei Konfuzius selbst den »Gebildeten« bedeutend – aus der Periode ständischer Herrschaft jener erbcharismatisch zur politischen Gewalt qualifizierten Sippen. Immerhin konnte dem neuen Prinzip des »aufgeklärten« Patrimonialismus: daß das persönliche Verdienst, und nur dieses, zu den Aemtern, einschließlich selbst des Herrscheramts, qualifiziere, die Anerkennung nicht ganz wieder entzogen werden[134]. Die feudalen Bestandteile der sozialen Ordnung traten immer stärker zurück, und in allen wesentlichen Punkten wurde doch der Patrimo nialismus[135], wie sich zeigen wird, die für den Geist des Konfuzianismus grundlegende Strukturform.
Wie bei ausgedehnten patrimonialstaatlichen Gebilden unter unentwickelter Verkehrstechnik durchweg, so blieb auch hier das Maß der Zentralisation der Verwaltung eng begrenzt. Auch nach Durchführung des Beamtenstaates blieb nicht nur der Gegensatz der »inneren«, d.h. im altkaiserlichen Patrimonium angestellten, zu den »äußeren«, den Provinzialbeamten und der Rangunterschied beider bestehen, sondern es blieb – mit Ausnahme einer Anzahl der höchsten Aemter in jeder Provinz – die Aemterpatronage und vor allem, nach stets neuen vergeblichen Zentralisationsversuchen, fast die gesamte Finanzwirtschaft schließlich den einzelnen Provinzen überlassen. Darum ist freilich in allen großen Finanzreformperioden immer erneut gekämpft worden. Wang-An-Schi (11. Jahrhundert) ebenso wie andre Reformer haben die effektive Durchführung der Finanzeinheit: Ablieferung aller Steuererträge nach Abzug der Kosten der Erhebung und: Reichsbudget, gefordert. Die ungeheuren Transportschwierigkeiten und das Interesse der Provinzialbeamten haben stets wieder Wasser in diesen Wein gegossen. Außer unter ganz ungewöhnlich energischen Herrschern haben die Beamten – wie schon die Zahlen der publizierten Katastrierungen ergaben – ganz regelmäßig sowohl die steuerpflichtige Fläche als die Kopfzahl der Zensiten um ca. 40% zu niedrig angegeben[136]. Die lokalen und provinzialen Unkosten mußten ferner natürlich vorabgezogen werden. Dann aber ergab sich für den Zentralfiskus eine höchst schwankende Resteinnahme. Schließlich kapitulierte er: Die Statthalter wurden seit Anfang des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart wenigstens der Tatsache nach ähnlich den persischen Satrapen auf einen in Normal pauschalien festgesetzten, nur theoretisch nach Bedarf variablen, Tribut gesetzt. Davon wird noch zu reden sein. Diese Steuerkontingentierung hatte Folgen für die Machtstellung der Provinzialstatthalter auf allen Gebieten.
Sie präsentierten die meisten Beamten des Bezirkes zur Anstellung. Diese erfolgte zwar durch die Zentralgewalt. Aber schon die kleine Zahl der offiziellen Beamten[137] führt zu dem Schluß: daß unmöglich sie selbst die Verwaltung ihrer riesigen Sprengel zu führen in der Lage sein konnten. Bei den schlechthin alles umfassenden Pflichten eines chinesischen Beamten konnte ein Bezirk vom Umfang eines preußischen Kreises, der einen Beamten hatte, selbst von Hunderten solcher nicht sachgemäß verwaltet werden. Das Reich glich einer Konföderation von Satrapien mit pontifikaler Spitze. Die Macht lag formell – auch nur: formell – bei den großen Provinzialbeamten. Die Kaiser ihrerseits aber verwendeten nach der Schaffung der Reichseinheit in ingeniöser Weise die dem Patrimonialismus eigentümlichen Mittel der Erhaltung ihrer persönlichen Gewalt: kurze Amtsfristen: offiziell drei Jahre, nach deren Ablauf der Beamte in eine andere Provinz versetzt werden sollte[138], Verbot der Anstellung eines Beamten in seiner Heimatprovinz, Verbot der Anstellung von Verwandten im gleichen Sprengel, und ein systematisches Spionagesystem in Gestalt der sogenannten »Zensoren«. All dies aber, ohne damit – aus gleich zu erwähnenden Gründen, – sachlich eine präzise Einheitlichkeit der Verwaltung herzustellen. Das Prinzip, in den zentralen Kollegialbehörden den Präsidenten des einen Yamen zugleich als Mitglied anderer Kollegien anderen zu unterstellen, hemmte die Präzision der Verwaltung, ohne die Einheitlichkeit wesentlich zu fördern. Erst recht versagte sie gegenüber den Provinzen. Die einzelnen großen lokalen Verwaltungsbezirke bestritten, sahen wir – mit gelegentlichen Unterbrechungen in Zeiten starker Herrscher – ihre heimischen Ausgaben aus den Steueraufkünften vorab und machten falsche Katasterangaben. Soweit die Provinzen finanziell – als Militär- oder Arsenalstandorte – »passiv« waren, bestand ein verwickeltes System von Anweisungen auf die Einnahmen der Ueberschußprovinzen und im übrigen kein verläßlicher Etat, weder der Zentrale noch der Provinzen, sondern traditionelle Appropriationen. Klarer Einblick in die Finanzen der Provinzen fehlte der Zentralgewalt, wir werden sehen mit welchem Resultat. Bis in die letzten Jahrzehnte waren es die Provinzialstatthalter und nicht die Zentralregierung: – die dafür nicht einmal ein Organ besaß –, welche die Verträge mit den fremden Mächten abschlossen. Fast alle wirklich wichtigen Verwaltungsanordnungen gingen formell von den Provinzialstatthaltern, in Wahrheit, wie wir sehen werden, von den ihnen untergeordneten, und zwar den unoffiziellen, Beamten aus. Die Anordnungen der Zentralgewalt wurden daher bis in die Gegenwart von den Unterinstanzen oft mehr als ethisch maßgebliche Vorschläge oder Wünsche, denn als Befehle behandelt, wie dies ja der pontifikalen, charismatischen, Natur des Kaisertums entsprach. Sie stellten auch inhaltlich, wie jeder Blick zeigt, mehr Kritiken der Amtsführung als Anordnungen dar. Der einzelne Beamte persönlich war freilich jederzeit frei absetzbar. Aber die reale Macht der Zentralgewalt zog davon keinen Vorteil. Denn das Prinzip: keinen Beamten in seiner Heimatprovinz anzustellen, und der vorschriftsmäßige dreijährige Wechsel von Provinz zu Provinz oder doch von Amt zu Amt, führte zwar dazu, daß diese Beamten der Zentralgewalt gegenüber nicht zu selbständigen Mächten nach Art feudaler Vasallen emporwuchsen und daß also die äußerliche Einheit des Reichs erhalten blieb. Aber um den Preis: daß diese offiziellen Beamten in ihren Amtssprengeln niemals bodenständig wurden. Der Mandarin, welcher, begleitet von einer ganzen Schar von Sippengenossen, Freunden und persönlichen Klienten, sein Amt in einer ihm unbekannten Provinz antrat, deren Dialekt er in aller Regel nicht verstand, war zunächst schon sprachlich meist auf die Dienste eines Dolmetschers angewiesen. Er kannte ferner das örtliche Recht der Provinz nicht, welches auf zahlreichen Präzedenzfällen beruhte, die er – da sie der Ausdruck heiliger Tradition waren – nicht ohne Gefahr zu verletzen wagen durfte. Und er war deshalb völlig abhängig von den Belehrungen eines unoffiziellen, ebenso wie er selbst literarischen, aber mit den örtlichen Gewohnheiten kraft örtlicher Abstammung genau vertrauten Beraters, einer Art von »Beichtvater«, der als sein »Lehrer« bezeichnet und von ihm mit Respekt, oft mit Devotion, behandelt wurde. Nächstdem war er abhängig von