Sie hatte beim ersten Blick, beim ersten in das Giebelzimmer heraufschallenden Stimmklang gewußt, daß der schöne, spielende Knabe im Vorgarten des Schillingshofes, sein Kind, ihr Enkel sein müsse – so Zug für Zug, so in jedem Laut, jeder Eigentümlichkeit des äußeren Gebarens wiederholt sich die Natur nicht in zwei sich völlig fremden Menschenwesen, die das Blut nicht gemein haben; so macht sie auch nicht ein Herz wie das ihre halb entsetzt, halb in jubelnder Lust aufschreien beim ersten Begegnen, wenn kein verwandter Zug da ist. Es war demnach völlig überflüssig gewesen, daß ihr die fremde Dame gesagt hatte, der Knabe führe den Namen Lucian ... Wo aber war sein Vater?
Es war eine schändliche Lüge, daß er sich von dem Erwerb seiner Frau mit ernähre. – Er hatte ein reiches Wissen, er war sehr fleißig gewesen und hatte sich unfehlbar eine feste, ehrenhafte Lebensstellung errungen – wohl in fernen Landen, wie sie nach der schwarzen Bedienung schloß, welche die Kinder behütete. Und – diese stille Hoffnung wurde immer lebendiger in ihrer Seele – er hatte wohl seine kleinen Lieblinge geschickt, damit sie sich allmählich an das Herz der Großmutter stehlen und Versöhnungsboten werden möchten ... Nun wohl, das war geglückt – die Mutter hatte verziehen ... Sie hatte sich selbst seinem Knaben gegenüber die Großmama genannt und den neugeschlossenen Bund mit einer Gabe besiegelt, die ihr Sohn selbst als Kind oft gesehen, und von welcher er wußte, daß sie der Mutter stets ein hochwertes Andenken gewesen war... Nun mußte er kommen – und er kam gewiß, selbst wenn augenblicklich noch große Länderstrecken oder das weite Meer zwischen ihnen liegen sollten – er kam! ... Bis dahin hieß es, sich selbst und die Sehnsucht tapfer bezwingen, denn noch – hatte ein letzter Rest starrer Unbeugsamkeit Sitz und Stimme in diesem harten Frauenkopfe. –
32.
Seit Baron Schillings Rückkehr aus Berlin waren sechs Tage verstrichen. Die Erdgeschoßwohnung des Schillingshofes hatte sich gleichsam gelichtet, seit der tückische Dämon der Krankheit aus allen Ecken und Winkeln gefegt worden war. Der kleine José hatte schon zweimal stundenlang im Freien verweilen dürfen; zwar saß er auch im Salon noch in seinem Fahrstühlen; aber das Bett wurde tagsüber nicht mehr aufgesucht. Die Glieder des Knaben fingen an, sich kräftiger zu regen; er ließ seine Bleisoldaten wieder aufmarschieren und exerzieren, und sein treuer Spielkamerad, Pirat, hatte auch bereits seine Aufwartung im Salon machen dürfen.
José trank pünktlich seine Milch aus dem Becher, den ihm »die Großmama« geschenkt. Mit dem Erscheinen dieses kostbaren Andenkens im Schillingshofe war eine erwartungsvolle, fast feierliche Stimmung, eine unbeschreibliche Spannung über diejenigen gekommen, die um die geheimnisvolle Sendung der Kinder wußten.
Am vorgestrigen Nachmittag, gleich nach dem Besuch der Majorin, war Donna Mercedes vom Säulenhause hergekommen, um nach dem Knaben zu sehen. Sie hatte von der Allee aus, gleich Jack, noch bemerkt, daß eine dunkle Gestalt durch die Mauertür hinausgeschlüpft war. Fast in demselben Augenblick war auch Baron Schilling aus dem Atelier an den Fahrstuhl getreten – so hatten beide die Erzählung des lebhaft erregten Kindes zugleich gehört.
Baron Schilling war ganz blaß geworden; er hatte sich tief über den Knaben gebeugt und dann sich aufrichtend kühl, wenn auch leicht zitternden Tones, zu Donna Mercedes gesagt: »Der letzte Akt steht nahe bevor – Sie werden rascher aus Ihrer aufopferungsvollen Lage erlöst werden, als wir denken und hoffen durften ...«
Mit wenigen kurzen Worten war man dann übereingekommen, daß vom Schillingshofe aus vorläufig noch kein irgendwie auffallender, entgegenkommender Schritt geschehen dürfe, weil das geheimnisvolle Tun und Wesen der Majorin entschieden darauf hinweise, daß sie hinter dem Rücken ihres Bruders handle und durch ein zu frühes Vorgehen in ihren eigenen Plänen nicht gestört werden dürfe.
Seitdem hatte Donna Mercedes den Herrn des Schillingshofes nicht wieder gesprochen. Sie sah ihn wohl dann und wann in der Nähe des Ateliers durch den Garten schreiten, wenn auch sie das Haus verließ, um sich zu ergehen und frische Luft zu schöpfen; aber dann wandte sie sich auch sofort um und kehrte in ihr Zimmer zurück, gleichviel, ob er es bemerkte, daß sie ihm aus dem Wege ging, oder nicht. Es war ihr immer, als könne sie nicht rasch genug aus, seiner Gesichtsweite kommen, und wenn sie dachte, daß sein scharfer Blick sie verfolge, dann lief ihr ein Schauer über den Leib ... Es war daheim ihre Gewohnheit gewesen, mißliebigen Menschen ohne weiteres den Rücken zu kehren, und die Schmeichlerzungen hatten ihr oft genug versichert, daß sie selbst diese vernichtende Ungnade mit unvergleichlich hoheitsvoller Grazie an den Tag lege. Hier nun wallte wohl auch das Gefühl der Empörung in ihr auf; allein noch mehr überwog die niederdrückende Überzeugung, daß sie mit all ihrem gerühmten Verstand, ihrer Gewandtheit und Energie dem Mann nicht gewachsen sei, der, einmal beleidigt, in souverän kühler Art und Weise ein zweites Mal nicht an sich herankommen ließ...
So war es zu ihrem eigenen Grimm ein namenloses, ein feiges Erschrecken, das sie bei seinem Erblicken sofort den Fuß wenden machte; es war eine unbezwingliche Scheu vor seiner Stimme, seinem Blick, und Furcht vor sich selber, daß sie einmal seinem geschlossenen Wesen gegenüber die Selbstbeherrschung verlieren und eine abermalige Niederlage erleiden könne.
In die Nähe des Säulenhauses kam er nicht. Er verließ den Schillingshof – auch zu Pferde – stets durch die Mauertür. Er hielt Wort – Fräulein von Riedt weilte ja nach wie vor als Besuch im oberen Stockwerk; sie hielt die Zügel des Hauswesens und pflegte die Baronin, denn die war krank. Oft mehrmals tagsüber rannten Boten nach dem Arzt. Er kam meist mit unwilligem Gesicht und nichts weniger als beschleunigten Schrittes – dann hörte man durch die offenen Fenster seine ernst mahnende, strenge Stimme gegen das gellende Aufschreien der Kranken ankämpfen... Manchmal mochte ihm auch die Vermittlerrolle aufgedrängt werden; denn er ging nach dem Atelier, kehrte aber stets ohne Baron Schillings Begleitung zurück – zur heimlichen Freude der Dienstboten, die ja seit Jahren wußten, was für eine Bewandtnis es mit den Krampfanfällen der Gnädigen hatte.
Inzwischen – und zwar am Tage nach Baron Schillings Zurückkunft – war auch ein Brief von Lucile an Donna Mercedes eingelaufen, ein Brief voller Schmähungen und Ungehörigkeiten, in welchem sie kurz und bündig abermals die sofortige Herausgabe ihrer kleinen Tochter verlangte. Die Antwort erfolgte umgehend und betonte ebenso fest und entschieden, daß das Kind in den Händen derer verbleibe, die zu seinem Schütze berufen seien – man werde es auf einen Prozeß ankommen lassen.
Das reizende, kleine Geschöpf, um dessen Persönchen ein heftiger Kampf zu entbrennen drohte, tummelte sich indessen harmlos und fröhlich in Haus und Garten. Paula fragte wohl manchmal nach »Mama«, aber die gleichmäßige zärtliche Liebe und Fürsorge, die sie umgaben, ließen keine Sehnsucht aufkommen nach der kleinen Frau, die ihre Kinder oft mit stürmischen Liebkosungen fast erstickt hatte, um sie gleich darauf in übler Laune um irgend einer Geringfügigkeit willen erbost auszuschelten.
Die schwarze Deborah wich Tag und Nacht nicht von ihrem »Goldkind«. So saß sie auch heute strickend auf ihrem schattigen Lieblingsplatz unter den Fichten, während Paula einen Puppenwagen über die sich kreuzenden Wiesenwege schob, die Deborah von ihrem Sitz aus vollkommen übersehen konnte.
Es war ein schöner,