Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte. Eugenie Marlitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eugenie Marlitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026841036
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mit leeren, tränenlosen Augen stier in die Weite ... Da lag alles in Scherben, der Wolframsche Starrkopf, die wütende Eifersucht, die eingebildete, auf vertrocknete Prinzipien gestützte Unfehlbarkeit – aber auch das letzte beseligende, aus furchtbaren Seelenkämpfen wiedergeborene Hoffen!

      »Ich will dich nie wieder sehen – selbst nach dem Tode nicht!« hatte sie dem scheidenden Sohn in unerhörtem Frevel zugerufen, und nun – nun hätte sie büßend in die weite Welt hinein bis zu ihm pilgern und die Erde, die ihn deckte, mit ihren Fingernägeln aufscharren mögen, um ihn nur noch ein einziges Mal wiederzusehen, dessen herrliches Aufblühen und Emporwachsen sie einst mit strengverschwiegener Mutterlust erfüllt hatte ... Nun wollte sie den aufgespeicherten Schatz von mütterlicher Liebe und Zärtlichkeit vergeudend über den Hügel ihres Kindes ausschütten, gegen das sie zeitlebens mit Worten und Liebkosungen erbarmungslos gekargt, um des Prinzipes willen... War sie nicht selbst schuld gewesen, daß er sein junges, enthusiastisches, zur Entbehrung grausam verurteiltes Herz schwärmerisch an das erste weich und liebend sich anschmiegende weibliche Wesen hingegeben hatte? ...

      Sie erhob sich von der Erde, auf die die furchtbar züchtigende Hand der Vergeltung sie niedergestürzt hatte, und blickte um sich wie verirrt, als habe sie alle Wegzeichen verloren, als sei sie das selbst nicht mehr, die Frau, die sich da mit kraftlosen Armen an dem Fichtenstamme emporhalf – es war ihr, als könne kein Blut mehr in ihren Adern rinnen, kein Herz mehr in der Brust klopfen, denn – wozu? Zu welchem Zweck? Für was denn in der Welt weiter leben? – Und hatte sie sich nicht auch den Himmel verschlossen mit ihrem Frevelwort?

      Eine entsetzlichere Wandlung, als die wenigen kurzen Augenblicke an dieser Frau vollzogen hatten, ließ sich nicht denken. Majestätisch, in sicherer Würde war sie herbeigekommen, und jetzt klammerte sie sich wie hilflos an den harten Stamm, ein tiefgebeugtes, an Leib und Seele gebrochenes Weib.

      Donna Mercedes hob erschüttert die kleine Paula vom Boden auf. »Nimm die Großmama in deine Arme, mein Kind,« sagte sie.

      Die Kleine hatte vorhin beim Zusammenbrechen der großen, starten Gestalt erschrocken aufgeschrien und sich an die Rockfalten der Tante angeklammert. Sie sah noch mit ängstlichen, verschüchterten Augen in das schmerzverzogene Gesicht, dem sie nahe gebracht wurde; aber das Wort »Großmama« mochte denselben Zauber für sie besitzen wie für ihren Bruder – sie legte die kleinen nackten Arme fest um den Hals der Majorin und drückte ihre jugendwarme, samtweiche Wange an das eiskalte Antlitz.

      »Die Kinder sind sein Vermächtnis für Sie,« sagte Donna Mercedes tiefbewegt, als die Majorin bei der Berührung plötzlich den Stamm losließ und das Kind ihr förmlich vom Arme riß, um es unter einem hervorstürzenden Tränenstrom in leidenschaftlicher Innigkeit an sich zu pressen. – »Ich soll Ihnen seine Lieblinge, die sein Glück, sein Stolz gewesen sind, überbringen – Sie sollen Schutz und Schirm, Vater und Mutter für die Waisen sein.«

      Fast fürchtete sie, der furchtbare Augenblick habe die unglückliche Frau der Sprache beraubt. Ein unbeschreiblicher Seelenkampf malte sich in ihren Zügen, aber kein Laut kam über die Lippen ... Sie hatte mit scharfem Blick an dem Leitfaden einer seltsamen, inneren Verwandtschaft sofort die Eigentümlichkeiten dieses Frauencharakters aufgespürt; trotzdem war sie unfähig, sich vorzustellen, daß die Vereinsamte in Menschenverachtung und unbändigem Hochmut, in grausamer Härte gegen das eigene Herz sich nahezu des Sprechens entwöhnt hatte, damit ihr ja nie eine Klage entschlüpfe und sie dem Mitleiden preisgebe. Sie hatte die Wohltat des Aussprechens ihr Leben lang verachtet, und nun in dem schwersten Augenblicke ihres Lebens war die alte Gewohnheit ihr grimmigster Feind.

      »Kommen Sie mit mir!« bat die junge Dame und ergriff ihre Rechte. »Ich habe Ihnen viel zu sagen. Gehen wir in das Haus –«

      »Ja – zu seinem Knaben,« murmelte die Majorin. Sie behielt das kleine Mädchen auf dem linken Arm und ging ziemlich festen Schrittes über den freien Platz nach dem Weg, der sich durch die Wiesen und Beete direkt nach dem Säulenhause schlängelte.

      Dieser schmale Pfad berührte den Teich und lief somit in nicht weiter Entfernung mit dem Zaun des Klostergutes parallel. Die beiden Frauen gingen nebeneinander und Deborah folgte mit dem Spielzeug des »Goldkindes«. Keine Silbe wurde gesprochen; man hörte den Sand unter den Füßen der Dahinschreitenden weichen und dann und wann ein schmerzvolles Aufstöhnen, das sich aus der Brust der Majorin rang.

      »Dort, dort! Siehst du sie denn nicht, Papa? Dort geht ja die Tante Therese!« kreischte Veit herüber. Er saß mit zappelnden Beinen auf seinem luftigen Platz, dem weit hervorragenden Ast des Birnbaumes, und zeigte mit dem Finger nach der wandelnden Frauengruppe.

      Und es rauschte und knackte in den Zweigen über der Gartenbank des Klostergutes, just in dem Augenblick, als die Damen näher kamen, und Deborah bekreuzte sich heimlich vor dem wutentstellten Mann, der sich durch das Haselgestrüpp wühlte, als wolle er sich kopfüber in den Nachbargarten hereinstürzen.

      Er schlug ein grimmiges Hohngelächter auf. »Du da drüben, Therese?« rief er mit weithin schallender Stimme. »Hast du denn alle Ehre verloren? ... Im Namen unsrer braven Eltern – herüber zu mir! Schande über dich und den Fluch der ganzen Familie, der du entstammst, wenn du nicht sofort auf das Klostergut zurückkehrst!«

      »Fort!« stieß die Majorin im unbeirrten Weiterschreiten hervor, und den freien rechten Arm weit ausstreckend, schnitt sie energisch mit der flachen Hand durch die Luft, als wolle sie reinen Tisch machen für immer.

      Sie hatte nicht einmal die Augen hinüber gewendet. Es kümmerte sie nicht, daß der Mann hinter dem Gebüsch mit der Gebärde eines Rasenden verschwand und gleich darauf eilende Schritte auf das Hintergebäude zustürzten; sie schien nicht zu hören, daß der Junge auf dem Baum ihr nachhöhnte, sie habe vorhin die Gartentür nach der Straße »sperrangelweit« offen gelassen, und die bleichende Leinwand sei gestohlen – er hatte augenscheinlich ihr ganzes Tun und Treiben beobachtet und seinen Vater herbeigeholt ... Unaufhaltsam ihren Weg verfolgend, preßte sie die kleine Enkelin an sich, als griffen gierige Hände nach dem Kinde, um es ihr zu entreißen.

      Sie stieg die Freitreppe des Säulenhauses hinauf, dieselben Stufen, die sie vor vierunddreißig Jahren zum letztenmal betreten, als sie in Kranz und Schleier am Arme des ihr eben angetrauten Mannes durch die Gärten in den Schillingshof gegangen war, um sich von der alten, siechen Dame des Hauses, der Mutter des Freiherrn Krafft, zu verabschieden ... Wohl war es ihr, als schreite sie über glühendes Eisen, und als sich die Tür nach der Flurhalle mit dem wohlbekannten Dröhnen auftat, die Karyatiden auf sie niedersahen und die weißen Götterbilder seitwärts auftauchten, da wurzelte ihr Fuß fest, und sie stand selbst da wie die an das Piedestal gefesselten Gestalten, entgeistert, als sei ihr die Seele entflohen und irre in weiten, weiten Fernen ...

      Aber diese Marmorfliesen hatte damals die bräutliche weiße Seidenschleppe gewogt – »ein hehres, himmlisch schönes Weib, eine reine, stolze Königslilie sei sein eigen« hatte er ihr dort, just vor der ???Anatme, stammelnd vor Aufregung und Glückseligkeit, zugeflüstert – und neben dieser kalten »Lilie« hatte er dann frieren müssen, zur Strafe weil er anderen Sinnes gewesen war als sie, weil er gemeint hatte, ein Mann und Soldat, ein feuriger Geist dürfe nicht zu Wachs, zum alltäglichen Philister in der Hand einer herrschsüchtigen Frau werden ... Dann war sie Mutter eines Knaben geworden – eine stolze, aber auch sofort beflissene Mutter, den kostbaren Schatz der Kindesseele in das althergebrachte Wolframsche Charaktermodell zu pressen. Die gewaltsam unterdrückten Seelen waren ihr entschlüpft, und sie hatte ihnen am Scheidewege trotzig den Rücken gekehrt, unbeugsamen Sinnes in eine graue, tote Wüste hineinwandernd. Aber das Modell war unter ihren Augen allmählich zerbröckelt – ihr Bruder, der Irrstern, der böse Geist, dem sie blindlings gefolgt, er hatte schließlich selbst die Ferse darauf gestellt und es zertreten um eines völlig aus der Art geschlagenen, nichtsnutzigen Buben willen ...

      Mit tief auf die Brust gesenktem Haupte schritt sie durch den Gang und trat über die Schwelle des Holzsalons, dessen Tür die vorauseilende Deborah weit zurückschlug.

      Die mächtige Dogge, die neben Josés Fahrstühlchen auf dem Teppich hingestreckt lag, fuhr mit einem wütenden Gebell auf die fremde Erscheinung los; José aber streckte ihr freudig die Arme entgegen, während Donna Mercedes mit einem strengen