Darüber bemerkte sie nicht, daß die Mauertür leise zurückgeschoben wurde. Ein Frauenzimmer in rundem Hut und langem, dunklem Reisemantel huschte wie ein Schatten in den Garten, und eine andere, eine zarte, elegante Damengestalt, blieb auf der Schwelle der offenen Tür stehen und sah ihr mit verschleiertem Gesicht, in sichtlich gespannter Haltung nach. Hinter dieser Dame erschien ein schlanker junger Herr in glänzendem Zylinderhut und lavendelfarbenen Handschuhen; er stand ehrerbietig um zwei Schritte zurück, lugte aber doch auch neugierig mit langem Halse über die Schulter der Dame in das Fichtendämmern hinein. Die Eingetretene warf einen scharfforschenden Blick um sich; dann flog sie wie ein Stoßvogel, wenn auch völlig lautlos, über die nächste Rasenfläche, direkt auf die kleine Paula zu.
In diesem Augenblick waren aber auch die entwischten Maschen gefangen und wieder auf die Stricknadel gereiht worden; mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung sah die Schwarze empor und – ihre runden Augen wurden weit vor Erstaunen und Bestürzung. Eine Frau griff eben nach dem »Goldkind«, das, ihr den Rücken wendend, ahnungslos neben dem Korbwägelchen im Wege kauerte und emsig das Puppenbettzeug aufschüttelte – diese plötzlich wie hereingewehte Person aber war Minna, die Kammerjungfer der kleinen Frau.
Sie hob das Kind blitzschnell vom Boden auf und sagte ihm etwas in das Ohr.
»Ach ja – zu Mama!« rief die Kleine und schlang die Ärmchen um den Hals der Kammerjungfer, die zu spät die Linke auf den jubelnden Kindermund legte.
Mit einem wilden Aufschrei sprang Deborah empor, schleuderte das Strickzeug fort und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen aufhaltend der in Sturmeseile nach dem Ausgang Strebenden entgegen. »Zu Hilfe, Jack! Hilfe! Sie wollen uns das Kind stehlen!« schrie sie über den Garten hinweg.
Die Kammerjungfer stieß mit der freien Linken kräftig nach ihr und suchte sie aus dem Weg zu schleudern; zugleich packten Männerhände die Schwarze von rückwärts an den Schultern; spitze, scharfe Fingernägel schlugen sich wie Raubtierkrallen in ihren nackten Arm, während ihr ein berauschend duftendes Taschentuch auf den Mund gedrückt wurde.
»Wirst du wohl still sein, albernes Geschöpf!« murmelte Lucile erbost – sie war's, die den Arm der schwarzen Wärterin umkrallte und den zarten Körper schlangenhaft und fest an Deborahs derbe Gestalt gepreßt, ihr den Mund zu verstopfen suchte. »Glaubt ihr denn hier in eurem Schillingshof, ich werde in lammfrommer Geduld warten, bis es den Herren Juristen gefällig ist, mir mein gutes Recht zuzusprechen?«
Sie warf einen raschen Blick nach der Mauertür und sah, wie Minna mit dem Kind hinauslief. Augenblicklich wurde die Schwarze wieder freigelassen – Lucile flog hinaus auf die Straße und der Herr im Zylinderhut folgte ihr. Jetzt aber war es nicht Deborah, die den über den Garten hingellenden Schrei des Schreckens, der Wut und Erbitterung ausstieß – er kam von der Straße herein.
Zwischen der Tür und dem draußen haltenden Wagen erschien, wie aus der Erde gewachsen, eine Frau, eine gewaltige Erscheinung mit bleichem Gesicht und geschlossenen Lippen; noch wogte ihr Gewand, wehte das Haar auf der Stirn vom rasend schnellen Lauf. Mit einem festen Griff riß sie, das Kind aus den Armen der Kammerjungfer und hielt es mit kräftigen Händen hoch über den Köpfen der Entsetzten, von denen Lucile abermals aufschrie.
»Kinderraub am hellen Tage!« rief die Frau hohnvoll mit ihrer markigen, tiefen Stimme, ohne das Gezeter zu beachten. Sie schleuderte die Kammerjungfer, die Miene machte, sich auf sie zu werfen, mit einer einzigen Bewegung bis nahe vor die Pferdehufe, trat weitausschreitenden Ganges in den Garten und warf das schreiende Kind in die Arme der herbeieilenden Deborah. Dann kehrte sie ihr medusenhaft starres Gesicht den draußen Stehenden wieder zu, unbeweglich wie eine Mauer den Rückzug der Wärterin deckend. Ihre mächtige Gestalt füllte nahezu den Türrahmen.
Dieses plötzliche Dazwischentreten der Frau war das Werk weniger Sekunden.
Es war in der weiten, düsteren, Hausflur des Klostergutes gewesen, wo sich diese zwei Frauen schon einmal gegenüber gestanden – die eine die sylphenhafte, seidenrauschende Gestalt mit dem Schleier über dem Gesicht und dem im spärlichen Lampenlicht auffunkelnden Armschmuck an den Handgelenken – die andere, die Majestätische in der Küchenschürze, mit dem vollen Haardiadem über der Stirn und den zermalmenden Worten einer Verdammung auf den Lippen ...
Diesmal flog der Schleier vom Gesicht der kleinen Dame, und die grünschillernden Augen funkelten in einem wahrhaft mörderischen Feuer.
»Sie werden mir augenblicklich aus dem Wege gehen, Madame!« sagte sie mit wutzitternder Stimme. Sie stampfte den Boden mit dem kleinen Fuß und hob die Hände, um die Frau auf die Seite zu schieben und ihre eigene kleine Person in den Eingang zu zwängen.
»Berühren Sie mich nicht – ich rate es Ihnen!« versetzte die Majorin, ohne sich zu bewegen, mit einem kalten Blick auf die leidenschaftlich gestikulierenden schlanken Arme.
»Ach, wollen Sie mich mit Ihren großen, groben Küchenhänden zerbrechen?« lachte die kleine Frau impertinent auf. »Ich fürchte mich nicht, wie Sie wissen! ... Ich habe Ihnen schon einmal mit diesen meinen Fingern, die Sie nicht für würdig halten, Ihre hochheilige Person zu berühren, ein Schnippchen geschlagen, an das Sie zeitlebens denken werden.«
Die geschlossenen Lippen der Majorin krümmten sich einwärts in verbissenem Grimm. »Sie haben wohl am wenigsten Ursache, zu triumphieren – meine Aussprüche haben sich bewahrheitet,« sagte sie zwischen den Zähnen hervor, mit einem unbeschreiblichen Hohnblick nach dem geschniegelten jungen Herrn, der, am offenen Wagenschlag stehend, ein so martialisch entrüstetes Gesicht machte, als wolle er die Widersacherin seiner Dame ohne weiteres aufspießen.
Lucile sah flüchtig über die Schulter zurück. »Bah, mein Sekretär!« sagte sie obenhin und wandte ihm wieder den Rücken, um aufs neue eine Bresche in den Garteneingang zu erzwingen. Deborahs fortgesetzte Alarmrufe klangen bereits entfernter; sie lief offenbar nach dem Säulenhause zu. Aber die Wegstrecke bis dahin war eine sehr lange – noch schien es möglich, der Wärterin das Kind abzujagen.
»Gott im Himmel, stehen Sie doch nicht so dumm und einfältig da, Forster!« schrie Lucile, abermals mit dem Fuße stampfend, nach dem Sekretär zurück. »Vorwärts – hinein müssen wir!«
Der Sekretär stand mit einem Sprung dicht vor der Majorin und drückte sich herausfordernd den Zylinder fester auf den Kopf. »Madame –«
»Ich bin die Majorin Lucian, mein Herr, wenn Sie meinen Namen wissen wollen, und – in den Garten kommen Sie nicht, darauf verlassen Sie sich!« sagte sie, wie festgewachsen auf der steinernen Schwelle verharrend. Sie hob nur den rechten Arm, um Luciles zierliche Gestalt, die ebenfalls auf sie einstürmte, wie ein stechendes Insekt von sich abzuwehren.
Die kleine Frau taumelte in die Arme ihrer Kammerjungfer. Sie war außer sich und lachte hohnvoll und gellend auf wie eine Bacchantin. »Ei ja, haben Sie immerhin Respekt, Forster! Die Dame da in der blauen Kochschürze, die sich vor den Eingang aufgepflanzt hat wie der Engel mit dem feurigen Schwerts vor dem Paradiese, ist allerdings Major Lucians geschiedene Frau, das Bauernweib vom Klostergute, das mit Butter und Eiern handelt, die böse Sieben, die Ehemann und Sohn in die Welt hinausgejagt hat!«
Sie trat wieder näher an die Majorin heran. »Pfui, Madame, Sie sollten sich der infamen Rolle schämen, die Sie da wieder spielen! Aber, was Wunder – es ist ja doch nur die Konsequenz Ihres erbärmlichen Charakters, wenn Sie eine Mutter verhindern, in den Besitz ihres Kindes zu gelangen und ihr unbestrittenes Recht –«
»Nicht so unbestritten, wie ich mir denke, da es gestohlen werden muß,« fiel die