Egal, dachte sie, während sie begann sich auszuziehen, sie hatte in den letzten Stunden Stimmungshochs und Stimmungstiefs erlebt, und jetzt wollte sie halt ein bisschen traurig sein, auch wenn sie sich damit selbst nur weh tat und dadurch auch nichts verändern konnte. Sie war eben ein emotionaler Mensch.
*
Am nächsten Morgen überlegte Bettina für einen Augenblick, ob sie ihre Schwester Grit anrufen sollte. Dann aber ließ sie es bleiben. Es war ihr schon einige Male passiert, dass Grit sie bei solchen Telefonaten abkanzelte und von ihrem selbst getätigten Anruf nichts mehr wissen wollte. Das wollte Bettina sich ersparen. Es war schon interessant zu sehen, wie sehr sich ihr Verhältnis zu Grit und Frieder verändert hatte. Früher hatte sie alles getan, um den scheinbaren Familienfrieden zu retten, ja, selbst wüste Beschimpfungen hatte sie über sich ergehen lassen. Alles hatte ihr nichts gebracht, und so hatte Bettina schließlich resigniert. In ihrem Herzen schmerzte es noch immer, denn ihre Geschwister waren das, was es noch an Familie gab bei den Fahrenbachs.
Oder sollte sie doch?
Bettina nahm den Telefonhörer in die Hand, legte ihn, nach einem Blick auf ihre Uhr, sofort wieder hin. Um diese Zeit schlief Grit auf jeden Fall noch, und wenn sie ihre Schwester jetzt durch einen Anruf aufwecken würde, käme ein gewaltiges Donnerwetter auf sie nieder. Und darauf hatte sie wirklich keine Lust.
Vielleicht würde sie Grit später anrufen, wenn ihre Zeit es zuließ und sie daran dachte. In der Destille gab es eine Menge zu tun. Der neue Katalog war fertig, er musste jetzt an die Kunden verschickt werden, Toni musste die Bestände der einzelnen Spiritousen aufstocken, und das musste genauestens bedacht werden, denn alles, was sie bestellten, musste auch bezahlt werden. Das Geschäft lief zwar immer besser, und sie hatten glücklicherweise nicht mehr die Engpässe der Anfangszeit, aber so was wie Rockefeller war sie nicht, würde sie auch nicht werden. Das war auch gar nicht ihre Ambition. Bettina wollte gut zurechtkommen und den Hof mit allem, was dazu gehörte, erhalten und nicht gezwungen werden, etwas von ihrem Land zu verkaufen.
Sie verschloss ihre Haustür und lief über den Hof. Arno kam ihr entgegen. Er wollte in der Remise weiterarbeiten. Sie winkte ihm fröhlich zu: »Hallo, Arno, hab’ einen schönen Tag.«
Er winkte zurück.
»Du auch, meine Liebe, arbeite nicht zu viel.«
Das sollte sie besser ihm zurufen. Er war es, der unermüdlich herumwerkelte und das mit großem Erfolg. Ohne sein handwerkliches Geschick hätte sie das alles nicht geschafft. Und all die alten Möbel ihrer Vorfahren. Wenn sie ehrlich war, so hätte sie einiges davon auf den Sperrmüll geworfen, weil es so zerrottet war durch das Alter und unsachgemäße Lagerung. Nicht so Arno, in mühsamer Kleinarbeit hatte er vieles wieder restauriert und zu neuem Glanz erblühen lassen, und das würde mit all den Teilen, die noch herumstanden, auch geschehen.
Bettina war oben angekommen und war froh, auf Herbert Bischoff zu stoßen, den Betriebsleiter der Destillerie.
»Guten Morgen, Herr Bischoff«, sagte sie erstaunt, »Sie schon da? Zwei Stunden vor Ihrem eigentlichen Arbeitsbeginn?«
Er grinste sie an.
»Ist viel zu tun, um die Bestellungen für unser Kräutergold pünktlich ausführen zu können, braucht’s ein paar Überstunden. Und wie würde unsere Frau Dunkel jetzt sagen?« Auch er war längst infiziert und brachte Lenis Sprüche und Weisheiten an. »Der frühe Vogel pickt das Korn … Ich hab’ auch ein paar Leute mit abgestellt, sodass wir gleich loslegen können … Der Herr Greiner ist übrigens auch schon oben in seinem Büro.«
»Super, dann will ich mich auch sofort nach oben begeben … Danke, Herr Bischoff.«
»Wofür denn?«
»Na, für Ihren Einsatz. Das, was Sie tun, ist doch nicht selbstverständlich.«
»Für mich schon. Bitte erinnern Sie sich, ich war bei meinem früheren Arbeitgeber ausgemustert, denen war ich zu alt. Aber Sie haben mir eine neue Chance gegeben, noch dazu in leitender Position, das werde ich niemals vergessen.«
»Sie haben den Job bekommen, weil Sie alle Voraussetzungen mitbringen, vor allem Erfahrung. So etwas ist durch nichts aufzuwiegen. Ich werde niemals diese Arbeitgeber verstehen, die gute Leute ausmustern, nur weil sie jenseits der fünfzig sind. Menschen haben schließlich kein Verfallsdatum, bloß weil sie ein gewisses Alter erreicht haben. Ich jedenfalls bin glücklich, Sie hier zu haben, denn der Betrieb läuft reibungslos. Und was kann sich ein Arbeitgeber mehr wünschen?«
Ehe er sich abwandte, um in den Produktionsbetrieb zu gehen, bemerkte er mit leiser Stimme: »Wenn es mehr Leute gäbe, die so denken wie Sie, sähe es auf dem Arbeitsmarkt ganz anders aus, Frau Fahrenbach.«
Er verschwand, Bettina sah ihm einen Augenblick lang nach, ehe sie die Treppe zu den Büroräumen hinaufging.
Herbert Bischoff war wirklich ein hervorragender Mitarbeiter, und auch die anderen älteren Angestellten machten einen guten Job. Und im Weinkontor, als ihr Vater noch der Besitzer gewesen war, hatte es auch nur altgediente Mitarbeiter gegeben, die für die Firma und ihren Chef alles getan hatten. Das hatte sich freilich geändert, nachdem Frieder der neue Chef geworden war, der hatte sie alle aussortiert und durch sogenannte junge, dynamische Mitarbeiter ersetzt.
Es würde Bettina schon interessieren, wer von diesen Leuten jetzt, da das Weinkontor in die Schieflage geraten war, noch da war. Vermutlich erschreckend wenig Leute. Diese Art von Mitarbeitern definierte sich nicht über die Firma, sondern durch das, was verdient wurde. Und wenn das Geld nicht mehr stimmte, wurde der Job gewechselt. Die früheren Mitarbeiter wären allesamt jetzt noch da und würden vorübergehend auch für weniger Geld arbeiten, weil für sie alle die Arbeit im Weinkontor mehr gewesen war als nur ein Job. Sie waren der Firma verbunden gewesen, wie ein Familienmitglied seiner Familie. Doch das hatte Frieder niemals begriffen und würde es auch nicht begreifen.
Sie seufzte. Schrecklich, immer wenn sie an ihren Bruder dachte, wurde sie traurig. Nicht nur, weil er sie so sehr missachtete, sondern auch, weil es ihm in kürzester Zeit gelungen war, das Lebenswerk ihres Vaters zu zerstören. Wann würde er begreifen, dass der Weg, den er eingeschlagen hatte, nicht der richtige war? Sein einziges Kind hielt sich vor ihm bis zur Vollendung des achzehnten Lebensjahres, also bis zur Volljährigkeit, vor ihm versteckt. Seine Ehefrau Mona hatte ihn, als das Geld nicht mehr so reichlich geflossen war und sie hatte befürchten müssen, ihre Tour zu den Schönheitschirurgen nicht mehr fortsetzen zu können, verlassen und gerafft, was sie hatte raffen können. Und sie hatte schon vorgesorgt und die Konten abgeräumt. Bettina wusste nicht, ob sie schon geschieden waren, doch wenn nicht, war das nur noch eine Frage der Zeit. Und seine junge Geliebte, an der die Schönheitsoperateure auch ordentlich Hand angelegt hatten, war auch nicht mehr in seinem Leben. Sie war davongeflogen wie ein Blatt im Wind.
Bettina war oben angekommen, ging in Tonis Büro, um ihm Hallo zu sagen.
»Guten Morgen, Toni.«
Er drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr herum, strahlte sie an.
»Guten Morgen, Bettina.«
Verblüfft blickte Bettina ihn an.
»Nanu, Toni, was ist los? Du strahlst ja wie ein Honigkuchenpferd. Hattest du einen Volltreffer im Lotto?«
Er grinste.
»Dazu müsste ich erst einmal spielen. Außerdem sind die Ziehungen im Lotto immer mittwochs und samstags, und heute ist, wie du weißt, Dienstag. Nein, ich brauche keinen Lotteriegewinn, ich habe meinen Haupttreffer längst, nämlich meine Babette und die kleine Marie. Die an meiner Seite zu haben, ist mehr als alles Geld auf der Welt.«
Ja, er und Babette waren wirklich unbeschreiblich glücklich miteinander, und die kleine Marie, Babettes Kind, das sie mit in die Verbindung gebracht hatte, vervollkommnete sein Glück, das er auch verdient hatte.
Nach all den Jahren der Einsamkeit nach dem Freitod seiner geliebten Laura, die nach einem unverschuldeten