»Als wäre es eine andere Welt«, flüsterte Daylight leise.
Er band sein Pferd an einen Baum und wanderte zu Fuß durch die Hügel. Die Höhen waren gekrönt von Jahrhunderte alten Tannen, die Hänge von Eichen, Madronjos und Christdorn bewachsen. Hier gab es keinen Weg für sein Pferd, und er kehrte zu der Lilie am Bach zurück. Zu Fuß, strauchelnd und stolpernd, das Pferd am Zügel führend, erkletterte er die Hügel. Farnkräuter bildeten einen Teppich zu seinen Füßen, der Wald stieg mit ihm und wölbte sich über seinem Haupte, und immer spürte er die reine Freude und Süßigkeit in seinem Herzen.
Auf dem Gipfel kam er durch ein seltsames Gebüsch samtstämmiger Madronjos, und dann tauchte der offene Hang vor ihm auf, der in ein kleines Tal hinabführte. Im ersten Augenblick blendete ihn der helle Sonnenschein, und er blieb stehen, um ein Weilchen auszuruhen, denn er keuchte vor Anstrengung. In alten Tagen hatte er keine Atemnot, keine so leichte Ermüdung der Muskeln gekannt. Ein kleiner Bach floß talabwärts über eine Wiese, auf der kniehohes Gras und blaue und weiße Anemonen wuchsen. Die Hänge des Hügels waren mit Lilien und wilden Hyazinthen bedeckt, die sein Pferd langsam, fast zögernd durchschritt.
Daylight ritt durch den Bach, folgte einem kaum erkennbaren Viehsteig über eine niedrige felsige Anhöhe und durch einen von Wein umrankten Manzanitawald und gelangte schließlich in ein anderes kleines Tal, in das ebenfalls ein Bach hinabrieselte. Ein Kaninchen sprang vor den Hufen seines Pferdes aus dem Gebüsch und verschwand im Grase des gegenüberliegenden Hanges. Daylight sah ihm bewundernd nach und ritt weiter dorthin, wo die Wiese begann. Hier schreckte er einen Bock mit vielzackigem Geweih auf, der scheinbar schwebend über das Gatter setzte und – immer schwebend – drüben in einem schirmenden Gebüsch verschwand.
Daylights Entzücken war grenzenlos. Ihm schien, er sei noch nie so glücklich gewesen. Die Erinnerung an das alte Leben in den Wäldern war wieder erwacht, und alles, was er sah, beschäftigte ihn – das Moos auf Stämmen und Zweigen, die Misteldolden, die von den Eichen herabhingen, das Nest einer Waldratte, die Wasserkresse, die in den schützenden Wirbeln des Bächleins wuchs, die Schmetterlinge, die auf ihrem Fluge Sonnenschein und Schatten spalteten, die blauen Häher, die in bunten Farben funkelnd durch die Seitenschiffe des Waldes huschten, die kleinen, zaunkönigartigen Vögelchen, die im Gebüsch umherhüpften und den Schrei der Wachteln nachahmten, der rotköpfige Specht, der mit dem Klopfen aufhörte und den Kopf auf die Seite legte, um ihn zu betrachten. Er überschritt den Bach und fand die schwache Andeutung eines Waldweges, der augenscheinlich seit Generationen nicht mehr benutzt worden war, seit die Eichen auf der Wiese gefällt waren.
Der alte Waldweg führte auf eine Lichtung, wo auf weinrotem Boden in einer Ausdehnung von einem Dutzend Morgen Weinreben wuchsen. Dann kam ein Viehsteig, wieder Bäume und Gebüsch und schließlich ein Abhang nach Südosten. Hier lag über einem großen Canjon, mit der Aussicht über das Sonoma-Tal, ein kleines Gehöft. Mit seiner Scheune und den Nebengebäuden schmiegte es sich an den Berg, der es gegen alle Winde aus Westen und Norden schützte. Aus dem Hange war ein kleines Fleckchen Erde herausgegraben, das als Küchengarten benutzt wurde. Der Boden war fett und schwarz, und wie Daylight sah, gab es Wasser in Hülle und Fülle, das aus mehreren weit offenen Hähnen strömte.
Vergessen war die Ziegelei. Es war niemand zu Hause, aber Daylight stieg ab, durchstreifte den Küchengarten, aß Erdbeeren und grüne Erbsen, besichtigte die alte Scheune aus ungebrannten Ziegeln, den rostigen Pflug und die Egge, drehte sich Zigaretten und rauchte, während er die possierlichen Bewegungen einiger Hühner und ihrer Küken beobachtete. Ein an der Seite des großen Canjons hinabführender Flußpfad lud ihn ein, und er schickte sich an, ihm zu folgen. Parallel mit dem Wege lief ein Wasserrohr, und er schloß, daß es bis zu dem Creek hinaufführte. Die Wände des Canjons waren mehrere hundert Fuß hoch, und so prachtvoll waren die unberührten Bäume, daß die Stelle dauernd in Schatten getaucht war. Er sah Tannen, die nach dem Augenmaß einen Durchmesser von fünf bis sechs Fuß haben mußten, und Kiefern, die noch größer waren. Der Pfad führte zu einem kleinen Teiche, wo das Wasserrohr zur Bewässerung des Küchengartens abgezweigt war. Hier standen Erlen und Lorbeerbäume, und er schritt durch Farnkräuter, die ihm über den Kopf ragten. Überall war samtartiges Moos, und dazwischen wuchsen Venushaar und goldrückiger Farn. Mit Ausnahme des Teiches war es eine jungfräuliche Wildnis. Keine Axt hatte sie je berührt, und die Bäume starben nur vor Alter oder unter dem Druck der Winterstürme. Die mächtigen Stämme der gestürzten Bäume lagen mit Moos bedeckt da und wurden langsam wieder zu Erde, der sie entstammten. Manche hatten so lange dagelegen, daß sie ganz verschwunden waren, obgleich man immer noch ihre Umrisse auf dem ebenen Boden sah. Andere bildeten Brücken über den Bach, und unter den riesigen Stämmen sah man ein halbes Dutzend junger Bäume, die im Falle mitgerissen waren, aber nun am Boden entlang wuchsen und immer noch lebten und gediehen, während der Bach ihre Wurzeln umspülte und ihre aufstrebenden Zweige das Sonnenlicht auffingen, das durch die im Walddach entstandene Öffnung hereinströmte.
Hinter dem Gehöft stieg Daylight auf und ritt fort von der bebauten Erde in die wilderen Canjons. Nichts als die Besteigung des Sonoma-Berges konnte seine Feiertagsstimmung jetzt befriedigen. Und drei Stunden später erschien er auf dem Gipfel, müde und in Schweiß gebadet, mit zerrissenen Kleidern und zerschrammten Händen, aber mit strahlenden Augen und einem ungewohnten Ausdruck von Zufriedenheit. Er fühlte dieselbe Freude wie ein Schuljunge, der die Schule schwänzt. Der große Spieltisch von San Franzisko erschien ihm jetzt so fern. Aber es war mehr als unerlaubte Freude in seiner Stimmung. Ohne daß er sich darüber klar wurde, was es war, wurde er von einem läuternden, erhebenden Gefühl beseelt. Hätte er erklären sollen, was er fühlte, so hätte er nur sagen können, daß er sich mächtig wohl fühlte, denn er war sich des gewaltigen Zaubers der Natur nicht bewußt, der Leib und Seele erfüllte, die vom Stadtleben angekränkelt waren.
Der Gipfel des Sonoma-Berges war unbewohnt. Er hielt sein Pferd an der südlichen Seite des Gipfels an. Im Süden und Westen sah er wogende Strecken offenen, grasbewachsenen Landes, das von bewaldeten Canjons durchschnitten wurde, Falte auf Falte, Woge auf Woge, bis der Blick auf der Sohle des Petalumalales haftenblieb, die eben wie ein Billard war mit ihren geometrischen Flecken und Vierecken – den Gehöften, die inmitten ihrer fetten Felder dalagen und fast an ein Reißbrett gemahnten. Weiter nach Westen erhob sich Kette auf Kette von Bergen, über deren Tälern dunkelvioletter Nebel brütete, und noch weiter fort, hinter der allerletzten Bergkette, sah er den silbernen Schimmer des Stillen Ozeans. Dann wandte er sein Pferd und blickte nach Westen und Norden, von Santa Rosa bis zum St.-Helena-Berge, und nach Osten über das Sonoma-Tal bis zu der mit Eichen bewaldeten Bergkette, die die Aussicht über das Napa-Tal versperrte. Hier, am östlichen Hang des Sonoma-Tales, in der Flucht einer Linie, die das kleine Dorf Glen Ellen durchschnitt, konnte er etwas sehen, das einer Schramme an der Seite des Berges glich. Sein erster Gedanke war, daß es der Schuttplatz von einem Minentunnel sei, dann aber fiel ihm ein, daß er sich nicht in einem Goldlande befand, gab es auf, sich den Kopf zu zerbrechen, und setzte seinen Rundblick über das Land fort nach Südosten, wo er jenseits der San-Pablo-Bucht scharf und fern die Zwillingszinnen des Mount Diabolo sehen konnte. Im Süden lag der Mount Tamalpais, und fünfzig Meilen weiter, wo die Zugwinde vom Stillen Ozean durch das Goldene Tor hereinwehten, bildete der Rauch von San Franzisko eine niedrige Dunstwolke am Himmel.
»Es ist lange her, daß ich so viel Land auf einmal gesehen habe«, dachte er laut.
Er riß sich ungern los, und erst nach einer Stunde konnte er sich zum Abstieg entschließen. Es machte ihm Freude, daß er einen neuen Weg fand, und es wurde später Nachmittag, ehe er die bewaldeten Hügel wieder erreichte und weiter nach Glen Ellen ritt. Er saß mit losen Knien im Sattel und sang halbvergessene Lieder vor sich hin. Es ging einen unebenen, gewundenen Weg hinab, über eichenbestandene Wiesen, wo es hin und wieder freie Ausblicke gab. Er lauschte begierig dem Ruf der Wachtel und lachte einmal laut auf vor Freude, als er einen kleinen Chipmunk sah, der schimpfend einen Hang hinaufflüchtete, jedoch auf der schlüpfrigen Oberfläche ausglitt, seinem Pferde gerade an der Nase vorbei quer über den Weg lief und schließlich, immer noch schimpfend, in die schirmende Krone einer Eiche schlüpfte.
Daylight brachte es heute nicht über sich, auf belebten Straßen zu reiten, und als er wieder quer über Land in der Richtung von Glen Ellen ritt,