Gesammelte Werke. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026800347
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in Verbrecherkreisen, an den krummen Max und den schiefen Heinrich, oder an spannende Indianergeschichten, was ganz ohne Herabsetzung so zu verstehen ist, daß Männer, die das Gemüt ihrer Lebensgenossen wirklich beschäftigen, von diesen saftige Namen erhalten, denen man es anmerkt, daß sie nicht von Professoren erfunden sind.

      Etwas Ähnliches hat sich bekanntlich auch mit den Namen der Gassen ereignet. Da hält man allerdings noch daran fest, sie entweder nach irgendeinem durchaus unvergeßlichen Stadtverordneten zu benennen oder nach all den Fürstlichkeiten, Heiligen, Gefechten und Philosophen, deren Nebeneinander in der Geschichte so gut zu einem Durcheinander paßt, wie es die Gassen bilden; aber doch sind die Schwierigkeiten für das Gedächtnis heute schon so groß geworden, daß man in vielen Städten dazu übergegangen ist, die Straßen eines Viertels schön nebeneinander mit Dichterfürsten zu belegen und die der benachbarten Viertel kompanieweise mit Musikgenies oder Pflanzennamen. Die Zoologie wird vorderhand merkwürdigerweise dabei vernachlässigt und bildet darum mit ihren innigen Beziehungen zum Menschenleben noch eine natürliche Reserve für die Zukunft, aber im ganzen ist es wohl doch so, daß die amerikanische Sitte, eine Straße um die andere einfach mit Nummern zu bezeichnen, nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Höchstens könnte man sich vor ihr für einige Zeit dadurch retten, daß man sich an die Chemie anlehnt, denn in dem Sprachsystem dieser verwickelten Wissenschaft schließt jeder Name gleich auch einen Hinweis auf die Gegend und Nachbarschaft ein, in der das von ihm bezeichnete Ding zu suchen ist. Ohne daß für die chemische Richtigkeit des Beispiels Bürgschaft geleistet werden soll, würde man dann also in der Ferrocyanürtheobrominesther-Gasse wohnen, und jeder Chauffeur wüßte sofort, wo man zu finden sei.

      Ob es sich durchsetzen wird, ist freilich fraglich.

      Nun aber kann man auch noch etwas anderes mit Vorteil fragen: denn warum haben alle Könige Franz und Ludwig, Friedrich, Wilhelm, Josef, Karl, Georg, Heinrich, Leopold und Humbert geheißen und warum nicht Emil, Anton, Hans, Paul, Bernhard, Eugen, Wolfgang, Adalbert und so weiter? Es hat da scheinbar eine willkürliche Zurücksetzung gewisser Namen stattgefunden, und viele von Emil bis Adalbert werden sich mit Vergnügen sagen, daß es den Fürsten recht geschehen sei, wenn sie dann mit ihren Namen kein Auslangen fanden und Ziffern dazusetzen mußten. Die Wahrheit ist aber die, daß die königliche Gepflogenheit, nur bestimmte Namen zu benutzen, durchaus nicht auf einer unbegreiflichen Abneigung gegen die übrigen beruhte, sondern auf der auch nicht ganz begreiflichen Überzeugung, daß ein Herrscher, dem man den Namen eines geschätzten Vorfahren gibt, zu dessen Reinkarnation werde, also daß zum Beispiel Otto IV. nicht etwa nur der vierte, sondern wirklich der zum viertenmal sich wiederholende erste Otto sein sollte. Es war das eine magische Sitte, verwandt mit der der Wappentiere und ähnlichem, etwas, das wir heute Aberglauben nennen würden, wenn die Vernunft nicht daran festhalten müßte, daß nur ein Aberglaube, der noch einen erkennbaren Zweck hat, Aberglaube zu nennen sei wie zum Beispiel das Zündholzausblasen in der dritten Hand oder das Auf-Holz-Klopfen. Und warum wir selbst unsere Söhne und Töchter mit Vorliebe nach nahen Verwandten benennen, das wissen wir nicht mehr, wenn wir auch dunkel glauben, daß es ihnen einen Vorteil bringen werde.

      Früher ist es auch bei der Benennung der Gassen anders gewesen als heute. Da war die Budapester Straße wirklich jene, die nach Budapest führte, und nicht bloß ein zu Ehren von Budapest benanntes Etwas, das man wie einen Strumpf bald da, bald dort hinlegen kann, in der Schmiedgasse saßen die Schmiede, an der Gerberlände die Gerber, wenn eine Gasse eng war, so hieß sie die Enge, und selbst die Häuser hatten ihre Namen. Das sieht heute wie eine hilflos verschwindende Romantik aus, die man gerührt in kleinen alten Städten besichtigt. Man bedenkt selten, daß diese vermeintliche Romantik sofort hellste Berliner Aktualität würde, wenn man etwa die Friedrichstraße Am Großen Bummel, die Tauentzienstraße den Jungfernstieg und den Kurfürstendamm auch noch nach einer seiner Funktionen benennen wollte.

      Warum tut man es nicht? Die Wahrheit ist, daß die Stadtverordneten fürchten müßten, nicht ernstgenommen zu werden, wenn sie sich einfallen ließen, bei einer Gassentaufe jenen urwüchsigen Sprachsinn zu zeigen, der eine Verschmelzung von Wirklichkeit und Phantasie ist. Denn der heutige Mensch hat geradezu eine geheimnisvolle Abneigung gegen den richtigen Gebrauch der Sprache, er hält ihn entweder für eine Schulmeisterei oder einen Witz. Er hat das Gefühl, sich persönlich bloßzustellen, wenn er anders als konventionell spricht. Er ist sprachscheu und sprachfeig.

      Von Adam steht geschrieben: «Und Adam nannte mit Namen alles Vieh und alles Geflügel des Himmels und alle Tiere der Erde». Heute tut das nur noch ein Kind. Noch Lohengrin sang: «Nie sollst du mich befragen». Heute singt so bloß ein Heiratsschwindler oder auch der Held eines Detektivromans. Dafür kann jedoch heute jede Jungfrau einen Mohrenkopf oder Lucca-Augen verschlingen, ohne daß ihr ein übles Gedenken wird. Es scheint also, daß es voreilig war, den Unterschied des Menschen vom Tier in der Sprache zu sehn, denn der Fortschritt geht in anderer Richtung. Die Sache ist ja die, daß der Urmensch überzeugt war, daß einer, der den Namen weiß, auch Gewalt hat über Person oder Ding, die so heißen; man nahm ursprünglich die Sprache für bare Münze und ging vorsichtig mit ihr um. Heute glaubt kein Mensch mehr daran, daß ihm etwas geschehen könnte, wenn er mit der Sprache fahrlässig und gedankenlos verfährt. Aber es kränkt ihn, daß das Leben immer ziffernmäßiger wird. Und damit hat er unrecht.

      Durch die Brille des Sports

[1925/26 oder später]

      Der Sport ist bei uns ungefähr zur gleichen Zeit Mode geworden wie die große Hornbrille. Ich will nichts gegen die Hornbrille sagen, sie ist kleidsam, hat dadurch Unzähligen den Mut zu ihrer Kurz-oder Weitsichtigkeit gegeben und verleiht ihren Trägern eine gewisse Liebe zur Intelligenz, was nach Platon der erste Schritt zu deren Erwerb ist. Ich will ja aber auch gar nichts gegen den Sport sagen; die folgenden Bemerkungen sollen im Gegenteil einem gewissen Zusammenhang zwischen Sport und Brille dienen und verstehen lassen, daß sich der Sport heute bei uns schon der Würde der Brille nähert. (Während er sich auf der anderen Seite fest im Ernst des Geschäfts verankert.)

      Ich will darum gleich strenge, erkenntnistheoretische Forderungen an den Anhänger des Sports stellen. Er denke daran, daß sich ein Geigenspieler mit einem Klavierspieler vergleichen läßt, denn es läßt sich sagen, wer von beiden der größere Musiker ist. Man kann sogar von einem Musiker und einem Maler sagen, wer von beiden der größere Künstler sei. Man kann einen Künstler etwa an einem Politiker messen und herausfinden, welcher der größere Reklamefachmann sei. Aber kann man einen Hoch-mit einem Weitspringer vergleichen? Das bereitet mir ernste Sorgen um die Zukunft und die seelische Vertiefung des Sports!

      Auf allen anderen Gebieten gibt es nämlich schon von altersher ein dichtes Netz von Kreuz-und Querbeziehungen (weiß Gott warum!), einen Hoch-mit einem Weitspringer kann man aber höchstens in ihrem «Stil», gewöhnlich aber nur durch ihr Verhältnis zum Rekord ihrer Disziplin, also mit Hilfe der Zentimeter vergleichen, um die sie von der Zwei-und Achtmetergrenze abweichen. Man müßte der Idealfigur des Sportsmanns auf den Statuen, die ihr errichtet werden, also eigentlich ein Metermaß in die Hand geben, wie es die Schneider um den Hals tragen, u. nicht nur das Lorbeerreiß. Denn die Wahrhaftigkeit ist doch eine der obersten Eigenschaften, zu denen uns der Sport erziehen soll? Und es bleibt auch nichts übrig als sich einzugestehn, daß die «Befreiung der Seele vom nüchternen Messen u Wägen des Alltags», die uns einige mit Federn ausgestattete Begleitpersonen des Sports verkünden, ihre Schwierigkeiten in sich hat.

      Ich möchte da zu Hilfe kommen, und weil ich selbst ein alter Sportsmann bin, einige Beobachtungen und Fragen mitteilen.

      Warum bringt man den Sport nicht in Zusammenhang mit den mystischen Bedürfnissen des modernen Menschen, die andere sind als zur Zeit der Scholastik? Ich habe gelesen, daß das in Amerika schon mit Erfolg geschieht, u. da der Mensch in seinen Zeitungen viel mehr vom Sport liest als von der Theologie, ist das sehr begreiflich. Wenn der Mensch am Steuer eines sehr schnell fahrenden Kraftwagens sitzt, wenn er scharfe Flugbälle placiert oder ein Florett führt, hat er in einem kleinsten Zeitraum u. mit einer Schnelligkeit, wie sie im bürgerlichen Leben sonst nirgends vorkommt, so viele genau auf einander abgestimmte Akte der Bewegung u. Aufmerksamkeit auszuführen, daß es ganz unmöglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen. Im Gegenteil, man muß einige Tage vor dem Wettkampf sogar das Training einstellen, u. das geschieht aus keinem anderen Grund, als um den Muskeln u