Gesammelte Werke. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026800347
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sie wisse, wohin er fahre: da waren der Bauer am Wald, der Moosleitner, das Fuchsengut, waren die Eisenbahnstation Ebenerding, der Weiler Pösting und die Mühle im Sierngraben: man selbst war höchstens einmal dort, aber diese Orte waren immer an ihrem Platz, so weit man dachte. Es war deshalb nicht anders wie wenn in den Frieden der Gegend ein Raubtier eingebrochen wäre. Jeder Bericht davon, daß man diese oder jene Spur wieder aufgeben mußte, wirkte wie eine Schreckensnachricht. Man sprach von wenig anderem, beteiligte sich wenigstens mit Mutmaßungen an den Nachforschungen, und allmählig bildete sich dabei ein ganz unwahrscheinlicher Verdacht heraus. Niemand hätte ihn geradezu aussprechen mögen und befragt, hätte er versichert, daß so etwas ganz sinnlos sei: aber so bildet sich auch ein Gedicht aus Worten, die scheinbar gar nichts miteinander gemein haben, und wie in einem solchen Rausch dichtete jeder an dem gleichen Verdacht.

      [«Hof» der Wiener Vorstadt]

[Ohne Titel – nach 1920]

      Ich müßte lügen, wenn ich so tun wollte, als wisse ich genau, wie sich diese Geschichte zugetragen hat; ich habe sie aus einem der Madel mit vielen Fragen herausgebracht, und den Ort kenne ich und die Marie habe ich dort oft gesehen: das ist alles.

      50 Menschen vielleicht lebten in jenem «Hof» der Wiener Vorstadt. Solche Höfe sind lange Pflasterstreifen, die rückwärts des Hauses in der Verlängerung der Einfahrt liegen und zu beiden Seiten von niederen [?] Wohnbauten u. Ställen eingesäumt werden. Gras wächst in den Ritzen zwischen den Granitwürfeln, die Türen der Wohnungen, der Pferde-, Holz-, Ziegen-u. Hühnerställe stehen im Sommer neben einander den ganzen Tag offen, Kochgeschirr steht vor den Türen, immer steht irgendwo ein Wagen, ein Sägebock oder ein Schraubstock, Kinder spielen auf den Erdstreifen neben den Steinen, an der Pumpe wäscht sich ein Mann oder reinigt eine Frau etwas und hinten schließt ein Baum den langen Blick ab, vor dem ein Gitter den Weg versperrt, denn dort fängt der Garten an, der dem Hausherrn oder einer Partei vom Straßenhaus gehört. In den vornehmen alten Teilen der Stadt sind diese Höfe längst zu Querstraßen, Durchhäusern, langen Geschäftsbasaren geworden, aber in den Vorstädten sieht man sie noch anders, und gewöhnlich, aber ich weiß nicht warum, ist von den zwei großen Torbogen des Vorderhauses durch die man im Vorbeigehn hineinschaut, der hintere nur so weit offen, wie er gerad ansteigt, während die Rundung mit strahlenförmigen bunten Scheiben verglast ist, so daß man den Himmel über dieser eingewandten Welt in blauen, gelben, roten und grünen Dreiecken sieht.

      Unter den Menschen, welche diese Höfe bewohnen, gibt es Zimmerherren u. Schlafburschen, Kutscher, bürgerliche Handwerksmeister, alleinstehende Frauen u. vielköpfige Familien kleiner Beamter; es herrscht ohne Freundschaft, aber durch tägliche Begegnung ein lockerer u doch fester Zusammenhang von Sitte, Tratsch, Nörgelei u. gegenseitiger Hilfsbereitschaft in diesen Winkeln, nicht unähnlich dem der sich auf einer langen Eisenbahnfahrt oder Zwischendecksreise entwickelt. Natürlich hatte es die Marie nicht leicht, hier für etwas Feineres zu gelten, wo man sich wochentags unbekümmert in jeder Art Vernachlässigung zeigt und Sonntags fein macht, ohne sich mehr dabei zu denken; es ließ sich nicht vermeiden, daß sie ein wenig geziert wurde. Wenn sie zb. den Schlüssel zu einem der Orte in der Hand tragen mußte, die von allen Parteien gemeinsam benutzt wurden, – sagen wir etwa, den der Waschküche, um nichts andres zu nennen – so trug sie ihn auf besondre, graziöse und abweisende Art in der Hand; oder sie trat nie anders als sorgfältig frisiert aus der Wohnungstür in den Hof, u. ihre Kleider waren stets von hausgemachter Nettigkeit, ja sogar ein wenig putzsüchtig, wobei sie vor allem eine kleine Schwäche für auffallende Rüschen und Schleifen an Hals und Händen zeigte.

      Ohne Geld wächst man an.

      Installateur – Spiegel, Bindfaden – Skandal, aus dem Haus – Die Jüdin, die verdammte. Haß, weil bedrängt. Die etwas zu wenig – etwas zuviel Geld hat)

      [Menschenfressergeschichte]

[Ohne Titel – 1922/23?]

      Die Sonne stand kaum erst über der Steppe. Rund und rot. Es war die berauschende Viertelstunde, wo die Kälte der Nacht verraucht und die Hitze des Tags noch nicht steil ansteigt.

      Der Dichter … ging spazieren. Die Haut an seinen Schläfen durch die Sonne senkrecht von der Seite beschienen, war fest und punziert wie das junge Leder eines Klubfauteuils oder der gute saftige Rücken eines schweren Folianten. Über seine Schultern lief das Licht wie Samenöl der Kakaobohne. Seine Hände aber, wenn er sie im Selbstgespräch hob, waren in dieser penetranten Morgenstunde fast transparent und ihre polierte Innenseite schimmerte in den zartesten Übergängen von grau und rosa wie ein geschliffener …stein.

      In der breiten Allee zwischen den zwei Hüttenreihn der Vorstadt grüßten die Kinder die Priesterbinde auf seinem Kopf. Seine Glieder waren von kunstvoll geschmiedeten Ringen bedeckt. Seine Gedanken waren durch ein Distichon beschäftigt, in dem es noch galt, durch die Stellung eines Worts, einen leisen Überklang von geisterhaftem Schauer zu gewinnen.

      Hätte ihn .. der Sklavenhändler nicht angesprochen, er hätte seinen Gruß nicht gemerkt …. willst du nichts kaufen, Herr, rief der muntere ….

      … blieb stehen. Er war ein Liebhaber des zarten von den Schauern der Mystik trotz aller Gewohnheit immer noch ein wenig umgebenen Menschenfleisches. Und auch sein Beruf als Priester, der ihn nach Gebeten u. Eingebungen seines Innern, die Schlachttage festzustellen auferlegt, band sein Interesse daran.

      Später .. sagte er, komme ich zu dir. Was hast du für Leute …. Krieger vom oberen Nil. Oh ihr Fleisch ist zu fest, sie sind kriegerisch, muskulös und ohne Nuance. Wenn sie Männer u erwachsen sind, Herr. Aber die Knaben, wenn man sie von Kind auf mästet und auch die Weiber wenn sie nicht arbeiten wie zuhause u fett werden haben ein unnachahmliches Aroma von Kraft u Zartheit; rauque et douce.

      .. ging weiter u. dachte an sein Distichon u. an die großen Mythen seines Volks die er bewahrte u. die weisen u. heiteren Sprüche, die er manchmal um einen vermehrte. Am Rückweg sprach er bei … dem Kupferschmied vor u. bei .. dem Töpfer. Er ließ sich ihre neuen Arbeiten zeigen u. sie sprachen über die raffinierten Kombinationen zw. Begrifflichkeit des Ornaments u. Flächenwirkung um die es sich handelte.

      Die Gefangenen, die er ansieht, sind heiter. Man hält sie bei Laune, damit sie nicht vom Fleisch fallen. Er nimmt ein paar zu sich, darunter die bewußte Sklavin. Sein Verhältnis zu ihr ist ohne Erotik Diese sentimentale europäische Nuance kennt man in .. nicht. Wohl im Frühjahr wenn man seitlich des Jagdpfads manchmal die Löwin in andren Tönen hört und wenn die Schakale längs der großen Handelsstraßen unruhig sind, fährt auch so etwas in die Menschen. Aber man tut es ab in Einklang mit diesen Geschöpfen ohne eine menschliche Besonderheit darin zu suchen. Die Seele des Mannes gehört außer Krieg und Jagd den großen Mythen, den Schauern des Zauberwaldes und dem Hintergrund, den sie dort für ihr Leben gewinnt.

      .. nimmt diese Sklavin für sich, aber er hat überhaupt die Mastsklaven der Stadt unter sich. Die man nicht braucht, werden in das Innere weitergesandt.

      Es ist eine sanfte Beschäftigung. Sie erfordert Menschenkenntnis. Die Mastsklaven müssen leichte Feld-u Hausarbeit verrichten um nicht nachdenklich zu werden und man hält sie zu Saitenspiel, Gesängen u Tanz an, damit sie ein zartes Fleisch bekommen. Nur Widerspänstige werden geschoppt, aber auch da sucht man bald sie seelisch zu beeinflußen um wieder zu milderen Methoden zu kommen.

      Ihre Wartung ist eine nachdenkliche Beschäftigung und .. liebt sie sehr. Man gewinnt Schäferweisheit.

      Die Männer dürfen mit Frauen der Stadt Geschlechtsverkehr haben, denn das Kind geht nach dem Vater und bleibt Mastsklave. Es gehen viele Spottgesänge um, daß die Frauen diese fetten Besteiger – besonders die schon in der Sklaverei geborenen – lieben. Solcher Ehebruch gilt nicht als Sünde; er reicht an die Ehre des Freien nicht heran und das corpus delicti wird samt seinen Folgen gefressen.

      Oft lebt so ein Sklave jahrelang in der Stadt. Man hat genug, es ist nicht alltägliche Nahrung und man nuanciert; je nach der Gelegenheit braucht man Fleisch eines so und so Jährigen. Sie laufen nicht fort. Erstens kann ein Einzelner u Unbewaffneter selbst auf den großen Handelsstraßen wegen der wilden Tiere nicht weit kommen und zweitens würde er doch nur einem andern Stamm in die Hände fallen. Sie bewegen sich