Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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      Er war ganz betroffen. Ihm fiel ein, daß er oft gehungert hatte, daß er oft verächtlich behandelt worden war, daß er sich vor der Polizei hatte verborgen halten müssen. Es war ihm in den sechs Jahren herzlich schlecht gegangen. Volle zehn Monate hatte er im Gefängnis zugebracht: »Nihilistischer Umtriebe« wegen. Er war darüber ungemein verwundert gewesen, hatte es sich niemals recht zusammenreimen können; denn er hatte nichts getan, durchaus nichts – zu seiner Schande mußte er es sagen. Die anderen »taten« etwas, Wladimir Wassilitsch und – eben die anderen, alle die anderen. Aber er, Sascha, was hätte er wohl tun können?!

      Welche sonderbaren Fragen seine Freundin ihm stellte.

      Mit stockendem Atem wartete Wera auf Antwort. Schwer und kalt, wie leblos, lag Saschas Hand in der ihren. Plötzlich bückte sie sich und drückte einen leidenschaftlichen Kuß darauf: Er wollte von seinen Taten nicht reden. Daran erkannte sie ihn.

      »Was tust du?« stammelte Sascha ganz entsetzt und ihr seine Hand heftig entreißend. Aber aus Wera brach die seit Jahren zurückgehaltene mächtige Empfindung gewaltsam hervor. Als ob die sternenlose Nacht nicht dunkel genug wäre, hielt sie ihr Gesicht von ihm abgewendet, damit er nicht sehe, wie die Scham darauf brannte; denn sie hatte nichts getan!

      »Nichts habe ich getan! Gar nichts! Gewartet habe ich, immer gewartet, sechs Jahre gewartet! Wenn ich dem Starosten die Branntweinflasche fortnahm, einem Kinde das Haar kämmte, oder ihm seinen zerrissenen Rock flickte, so war das schon viel getan. Und wie unwissend ich geblieben bin! Denke dir; nicht einmal, daß ich den Kindern heute sagen konnte, weshalb Rußland so lange Winter hat. Nichts weiß ich, nichts nütze ich, mit nichts kann ich unserem armen Volke helfen. Und geholfen muß dem Volke werden. Das steht ja auch in allen den Zeitschriften und Heften, die du mir im ersten Jahre geschickt hast. Ich habe alles gelesen, ich kenne alles auswendig. Es ist wunderschön, es klingt so erhaben und feierlich. Wenn ich es nur besser verstünde – – Sagtest du etwas?«

      Er hatte nichts gesagt; er hatte nur geseufzt, tief und schwer. Also: Sie hatte alles gelesen; es war so schön, es klang so feierlich, aber – – aber sie verstand so wenig davon. Das war es ja eben! Und plötzlich dauerte sie ihn, plötzlich wünschte er, nicht gekommen zu sein, oder die weite Reise – nicht aus eigenem Antriebe hatte er sie unternommen, wahrhaftig nicht! – umsonst gemacht zu haben. Aber darin hatte sie recht: dem Volke mußte geholfen werden, dem »armen« Volk, wie sie es nannte. Sie war so gut, so klug und stark.

      »Freilich,« murmelte Sascha, »freilich muß dem Volke geholfen werden; wir, die Männer des Volkes, wir müssen dem Volke helfen.« Es war die Redensart, die ihm in den sechs Jahren seines Moskauer Aufenthalts so geläufig geworden, daß er sie oft laut vor sich hinsprach, was ihm stets eine gewisse Befriedigung gewährte.

      Mit starker Stimme bekräftigte die Freundin: »Das müssen wir, das ist unsere heilige Pflicht. Es gibt so großes Elend auf der Welt.«

      Sascha sah scheu auf die hohe Gestalt an seiner Seite, die der Nebel mit geheimnisvollen Schleiern umwob. Sie war ihm fremd geworden. Ihre Feierlichkeit machte ihn beklommen, ihre Leidenschaftlichkeit erschreckte ihn. Es wird wohl nichts helfen, dachte er. Ich werde sie wohl mitbringen müssen, wie sie mir aufgetragen haben. Du wirst sehr unglücklich werden, aber unglücklich werden müssen alle, die dem Volke helfen wollen. Das ist nun einmal so. Ich bin begierig, was sie tun wird.

      »So erzähle mir doch, wie es in Moskau war.«

      Sascha mußte sich erst darauf besinnen. Langsam reihte sich Gedanke an Gedanke, langsam Wort an Wort. Er unterbrach sich häufig, stockte häufig. Er gewahrte nicht, mit welcher leidenschaftlichen Spannung ihre Augen an seinen Lippen hingen.

      »Wie es in Moskau war? Prächtig! Eine prächtige Stadt! So viele Kirchen und Paläste! Es strahlt alles nur so. Und so viele Menschen! Man glaubt's gar nicht. Wohl an tausend Popen! Und Gouverneure, Staatsräte, Beamten. Das sind mächtige Herren. Sie tun alles was sie wollen. Und das Volk –«

      »So sprich doch,« drängte Wera.

      »Ja, das Volk – Es ist so hilflos, es weiß so wenig von sich selbst, es ist wie ein Kind, wie ein armes, krankes Kind. Ein krankes Kind kann auch nicht sagen, was ihm fehlt. Da liegt es, das arme, kleine Ding, so – nun eben so hilflos. Weint und wimmert und weiß nicht einmal, warum es wimmert und weint. Man kann es doch nicht so liegen lassen; man muß dem armen, hilflosen Geschöpf doch helfen. Muß man nicht, Wera Iwanowna?«

      »Ja, ja ja!«

      Sascha sah zu Boden und rieb mit seinen großen roten Händen hilflos die Ellbogen. Nach einer Weile stieß er hervor: »Und muß man das Volk wohl verachten?«

      »Wer verachtet es?«

      »Alle verachten es! Alle, die dem Volk helfen sollten – die dem Volk helfen könnten. Sie kennen es eben nicht. Wie sollten sie auch? Sie wissen nichts vom Volk, nichts von seinem Leben, nichts von seiner Seele. Es hat nicht einmal eine Sprache für sie. Es ist tot für sie, schlimmer als tot; denn sie verachten es! Sie verachten das stumme, kranke, hilflose Kind, das ihnen nichts sagen kann von seinen Schmerzen. Sie knechten es. Und wenn es dann seine Hände regt und ihnen sagt, daß es frei sei, so werfen sie es in die Gefängnisse, so verschicken sie es nach Sibirien in die Bergwerke und Gruben: Mann und Weib. Sie machen das Volk schlecht und träge, kriechend und heuchlerisch, elend und niederträchtig, und dann – dann verachten sie es.«

      Er sprach ganz beredt. Wera lauschte wie auf die Verkündigung eines Evangeliums. Eine tiefe Zuversicht überkam sie, eine feste Hoffnung, ein unerschütterlicher Glaube.

      Mit erstickten Tränen in der Stimme, bat sie: »Sprich weiter.«

      Die Finsternis und Weras Nähe gaben Sascha ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe, wie er es vorher noch niemals gekannt. Auch hatte man ihn noch niemals um seine Meinung befragt; noch niemals war es jemandem eingefallen, Sascha als einen Menschen zu betrachten, der auch eine Meinung besitzen könnte. Sechs Jahre hindurch hatte er »helfen« wollen und »nichts getan, gar nichts« – sechs Jahre hatte er darüber nachgedacht und geschwiegen. Nachdem nun das erste Wort gesprochen, kam es über ihn wie eine Befreiung.

      »Sie haben uns immer verachtet. Sie haben uns verachtet, wo sie uns hätten beweinen sollen – jawohl, beweinen! Aber sie dachten: ist das Volk zum Schinden da, so taugt es auch zum Schlachten. Und sie schlachteten es. Arme, dumpfe, stumpfe Masse, die sich in den Tod treiben ließ! War dann in den Kriegen unser Blut geflossen, daß man damit Rußlands Schneefelder hätte fortspülen können, so durften die Übriggebliebenen wieder in ihre Dörfer zurück-* kehren, so durften sie ihre vom Feinde eingeäscherten Häuser wieder aufbauen, sich vom Edelmann wieder ins Joch spannen, sich von der Knute wieder blutig peitschen lassen, wenn sie etwa murrten. Indessen sie murrten nicht. Aber geschlagen wurden sie doch! Nicht allein die Hunde haben traurige Augen – traurige Augen hat auch der russische Bauer. In seinen traurigen Augen ist es zu lesen, darin steht alles. Aber sie, die Klugen und Weisen, die alle Sprachen der Welt verstehen, können es nicht lesen: die stumme Sprache des Volles kennen sie nicht; sie verstehen nicht, daß die »Seelen«, wie sie uns nannten, auch wirklich Seelen besitzen. Wir sollen frei sein. Warum lassen sie uns dann nicht auch frei handeln? Weil wir zu stumpf sind. Warum sind wir zu stumpf? Weil wir bei lebendigem Leibe dem Leben abgestorben sind. Wir haben zu viel erduldet. Damit ist alles gesagt.«

      »Alles!« hallte es wie ein dumpfes Echo tonlos zurück.

      Doch Sascha sprach weiter. Er hätte jetzt gesprochen und wäre es heller Tag gewesen, und hätte ihm nicht nur Wera, sondern das ganze Volk zugehört.

      »Es geht manches vor in Rußland, aber das russische Volk weiß nichts davon. Wozu braucht es auch etwas davon zu wissen? Was geht es das Volk an, ob man es retten oder noch mehr verderben will, ob man es liebt oder haßt. Aber trotzdem das Volk nichts davon weiß, wartet es. Eswartet immer. Es wartet seit Jahrhunderten. Worauf wartet es? Auf Befreiung. Aber die Befreiung ist ja gekommen. Es gibt in Rußland keine Leibeigenen mehr, das russische Volk ist frei! Geht und fragt das russische Volk danach. Viele werden gar nichts davon wissen. Und haben sie sich darauf besonnen, werden sie schnell in die Schenke laufen und so lange Branntwein trinken, bis sie ihre