Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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      »Ich will alles tun.«

      »Bedenke auch das: Staat und Regierung sind sehr hart gegen uns. Sie nennen uns Verbrecher und Missetäter, sie werfen uns ins Gefängnis, sie verurteilen uns zum Schafott, sie verschicken uns nach Sibirien und in die Bergwerke!«

      »Sie sollen mich nach Sibirien schicken – auf das Schafott.«

      Wiederum ein langes Schweigen. Mehr und mehr überflutete das Mondlicht die Steppe. Es war ein Flimmern und Schimmern, ein Strahlengeriesel, als zerflössen Erde und Himmel in dem Glanz. Bereits lag Eskowo dicht vor ihnen; die Lichter des Dorfes funkelten gleich großen Rubinen.

      Da nahm Sascha seinen ganzen Mut zusammen. Er fühlte sein Herz hämmern, und das Blut gegen die Schläfen dringen. »Etwas muß ich dir noch sagen.«

      Aber er schwieg. Sobald er an sie dachte, versetzte es ihm den Atem. Und er sollte Wera jetzt ihren Namen nennen.

      »Was mußt du mir noch sagen?«

      »Unsere Herrin – Anna Pawlowna – du weißt doch – – «

      Doch sie wußte nicht. Sie fragte ihn und er mußte antworten.

      »Anna Pawlowna gehört seit kurzem auch zu den unseren.«

      Daß der Mond gerade so hell scheinen mußte! Sascha zog den Kragen seines Rockes noch höher, drückte seine Kappe noch tiefer in die Stirn: es war so grimmig kalt.

      »Zu den Unseren – – Anna Pawlowna?«

      Sie verstand ihn nicht; er mußte es ihr erklären.

      »Viele Edelleute gehören zu den Unseren – ganz heimlich, verstehst du. Das ist sehr gut für uns, das nützt unserer Sache sehr. Diese verachten das Volk nicht mehr – im Gegenteil. Ja, so ist es.«

      Wieder versuchte sie in sein Gesicht zu spähen. Da bückte er sich. Aber auf der Steppe wuchsen jetzt keine Blumen.

      »Die verachten das Volk nicht mehr? O Sascha, Sascha!«

      Warum sagte sie das so klagend, so zweifelnd? Glaubte sie ihm nicht, oder mißtraute sie jenem? Das wäre sehr unrecht von ihr, sehr unrecht! Er wurde fast heftig.

      »Anna Pawlowna ist edel. Sie tut sehr viel für die Sache, wir müssen ihr sehr dankbar sein.«

      »O Sascha! Sascha!«

      Es war nicht mehr eine Klage, es klang wie eine Anklage. Das Blut stieg ihm zu Kopf.

      »Wenn du an Anna Pawlowna zweifelst, so ist es besser, du bleibst hier. Das wird überhaupt am besten für dich sein; denn du mußt nämlich wissen, daß Boris Alexeiwitsch auch einer der Unseren ist.«

      Er sagte es ihr so ins Gesicht hinein, es kam ihr so unerwartet, daß sie nicht wußte, wie ihr geschah: Boris Alexeiwitsch auch einer der Ihren!

      Sie erwiderte nichts. Sie war so verwundert, so betroffen, daß sie es nicht einmal zu begreifen versuchte. Sascha wurde plötzlich ganz redselig.

      »Er ist ein ganz anderer geworden, gar nicht mehr stolz und hochmütig, ein prächtiger Junge! Er liebt das Volk, er will das Volk kennen lernen, er will dem Volke helfen. So ist es.«

      »Er liebt das Volk, er will das Volk kennen lernen, er will dem Volke helfen. Wer? Boris Alexeiwitsch?« Sie rief den Namen ganz laut und verstummte erschrocken. Gern hätte sie ihn wieder gewarnt: »O Sascha! Sascha!« Aber es wollte ihr diesmal nicht über die Lippen.

      »Er war es, der den anderen zuerst sagte, sie sollten mich zu dir schicken und dich nach Moskau holen lassen.«

      Er war es? Weras Gedanken verwirrten sich.

      »Aber du kannst ja bleiben. Es ist gewiß am besten, wenn du bleibst.«

      »Warum?«

      Sie stieß es so feindselig heraus, sie war so beleidigt, daß er keine Erwiderung wagte.

      »Tut es dir leid, daß du gekommen bist?«

      Jetzt war an ihm die Reihe klagend, fast anklagend zu sagen: »O Wera, Wera!«

      »Welches Recht hat Boris Alexeiwitsch, nach mir zu schicken, welche Pflicht hast du, Boris Alexeiwitsch zu gehorchen?«

      »Ich sagte dir ja, gehorchen müssen wir alle; gehorchen mußt du auch.«

      »Boris Alexeiwitsch?«

      Ihre Stimme klang heiser.

      »Gehorchen muß auch Boris Alexeiwitsch, wenn über ihn verfügt wird.«

      »Wer verfügt über ihn?«

      »Das Komitee der ›Auferstandenen‹. Er brachte es beim Komitee nämlich in Anregung, daß man dich holen lassen möchte – – Also du willst wirklich mitkommen?«

      »Ich will,« rief Wera laut und feierlich wie ein Gelöbnis.

      Da wandte Sascha ihr sein Gesicht zu. Der Mond beschien es, entsetzt starrte sie ihn an

      »Sascha!«

      Er fuhr zusammen.

      »Wie siehst du aus? So verändert!«

      Sascha konnte darauf nichts entgegnen, denn eben betraten sie die Dorfstraße. Der Gottesdienst war zu Ende. Aus der Kirche strömte es hervor, ein Gewimmel von Lichtern. Alles fiel sich in die Arme, alles küßte sich.

      »Glückseliges Auferstehen!«

      »Glückseliges Auferstehen!«

      Sie blieb stehen, umfaßte den Freund mit beiden Armen und küßte sein bleiches, entstelltes Gesicht.

      Sechstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Einige Wochen später fuhren zwei elende Bauerntelegen die Landstraße hin, die aus dem Norden nach Moskau führt. Im ersten Gefährt saßen inmitten von Gepäck und Körben mit Lebensmitteln für die weite Reise Sascha und Colja, im zweiten Wera und Tania. Saschas Aussehen hatte sich gebessert. Ein Schimmer von Jugend und Hoffnung lag auf seinem breiten Kindergesicht, das er häufig nach dem zweiten Wagen zurückwandte. Jedesmal nickte Wera ihm freudig zu und jedesmal tröstete er sich mit der Versicherung: Sie ist stark; sie werden ihr nichts anhaben können; nicht die Sache und nicht Boris Alexeiwitsch.

      »Ich will!« hat sie gesagt, und sie kann. Sie wird der Sache nützen, sie wird dem Volk helfen, sie ist stark.

      Seitdem er sich wieder bei ihr befand, stand er ganz unter dem Zauber ihrer Persönlichkeit. Es war ihm wie eine Erlösung. In Moskau hatte er so viel an Anna Pawlowna denken müssen, daß sein Kopf es gar nicht mehr ertrug. Anna Pawlowna war so edel, so großmütig, so schön; sie liebte das Volk, sie wollte dem Volk helfen, sie war eine der »Unseren«. Sascha war ihr dafür in einer Weise dankbar, daß er – aus Dankbarkeit – mit tausend Freuden für sie gestorben wäre, oder sich für sie hätte ins Gefängnis werfen, nach Sibirien verschicken, zum Tode verurteilen lassen.

      In einen riesigen Schafspelz gewickelt, eine steile Mütze aus Iltisfell auf dem Kopfe, erschien neben Sascha Colja wie eine einzige gewaltige, gelbliche Haarmasse. Bei jedem Stoß, den die Telega bekam – und sie fuhr ununterbrochen in die Höhe – flog er getreulich mit, so daß er sich mehr in der Luft als auf festem Boden befand, und bei jedem Stoß, den sein Körper erhielt, verspürte er lebhafte Unruhe, wie der Kwas, von welcher Gottesgabe ein ansehnliches Tönnchen die Reise nach Moskau mitmachte, die Sache aufnehmen würde. Niemals zuvor hatte sich sein Geist in einer ähnlich aufreibenden Tätigkeit befunden; denn abgesehen von der Sorge um das Lebenselixier, welches er mit sich führte, mußte er sich ohne Unterlaß wundern, daß er in einer Telega saß und nicht neben einer Telega herlief – nämlich neben der zweiten, in der Tania Nikolajewna nach Moskau reiste. Gerade lachte es hinter ihm hell auf; und sofort begann es in den Fellen zu dröhnen und zu stöhnen, daß Sascha förmlich erschrak.

      »He,