Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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      Auf Weras Gesicht war ein Ausdruck tiefsten Mitleids erschienen, welcher die strengen Züge wie ein Schein überflog. Sie neigte sich über die Traurige und flüsterte: »Warum weinst du, Tania?«

      »Weil mir so bang ist, weil uns ein großes Unglück bevorsteht.«

      »Ich verstehe dich nicht.«

      »Wladimir ist so wild, sage ich dir. Er kann so schrecklich hassen.«

      »Wen haßt er?«

      »Ach, ich weiß es auch nicht; aber ich glaube alle, die das Volk bedrücken. Die Briefe, die er mir bisweilen durch einen Boten zuschickt, sind fürchterlich. Niemals ein Wort von Liebe zu mir; nur von Haß ist die Rede, immer nur von Haß! Er schreibt mir: Ich liebte ihn nicht, wenn ich nicht alle die haßte, die er haßt. Sie wären die Verderber Rußlands.« »Das sind sie!« rief Wera. Sie war aufgestanden. »Sie müßten alle sterben.«

      »Sterben?!«

      »Alle, alle! Erst dann kämen bessere Zeiten für Rußland, denn dann würde in Rußland das Volk herrschen.«

      »Das Volk herrschen? Was versteht das Volk davon? Das Volk weiß ja nicht einmal, was ihm fehlt, weshalb es unglücklich ist. Es müßte dem Volke erst gesagt werden, das Volk müßte erst lernen, nicht unglücklich sein zu wollen. Es regt ja keine Hand, läßt alles gehen, wie es gerade geht, ist ganz dumpf und stumpf. Und dann in Rußland das Volk herrschen! – – Was willst du, Colja?«

      Er wollte nichts, gar nichts! Er brummte und murrte nur. Nicht einmal das Glas Kwas, welches Wera ihm einschenkte, wollte er austrinken: Tania Nikolajewna, das Täubchen, schluchzte immer noch.

      »Was schreibt dir Wladimir sonst in diesen heimlichen Briefen?«

      Sie stand, vergebens bemüht, ihre Aufregung niederzukämpfen, mit angehaltenem Atem auf die Antwort wartend.

      »Was er sonst schreibt? Sonst nichts. Es ist immer dasselbe, in jedem Briefe dasselbe. Er wird gewiß recht haben.«

      »Er hat nicht recht. Aber Colja, so sei doch still.«

      Aber Colja war nicht still; Colja fuhr fort, vor sich hin zu murmeln und zu murren.

      »Ich glaube, daß er recht hat,« sagte Tania leise und eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Die sanften Augen bekamen Fieberglanz, sie erhob sich und trat von Wera fort. Eine Pause entstand. »Wann denkst du, daß dein Verlobter zurückkommen wird?«

      »Er wird gar nicht zurückkommen.«

      »Nie?«

      »Er wird nach mir schicken, wenn er es an der Zeit hält.«

      »Und dann?«

      »Dann werde ich zu ihm gehen.«

      »Aber deine Eltern?«

      »Dann werde ich zu ihm gehen,« wiederholte Tania und sie setzte hinzu: »Ich bitte Gott, die Madonna und alle Heiligen jeden Morgen und Abend, daß er bald nach mir schicken möge.«

      »Wirst du allein gehen?«

      »Colja begleitet mich – natürlich.«

      Jetzt kam der große Augenblick: Colja sprach und wie sprach er!

      »Colja begleitet sie – natürlich! Wera Iwanowna, Mütterchen, seien Sie unbesorgt: Colja begleitet das Täubchen. Wenn es fortflattert, flattert Colja mit – natürlich! Colja ist ein Knecht, Colja tut, was man ihm befiehlt. Ruft die Herrin: Colja hier! kommt Colja her – natürlich! So ist's.«

      Es war die längste Rede, die er jemals gehalten. Vollständig erschöpft sank er gegen die Wand und schloß die Augen. Da hörte er Tania leise auflachen; über Colja – natürlich! Fast hätte er vor Vergnügen mitgelacht. Statt dessen leerte er das Glas Kwas, das er immer noch in der Hand hielt. Jetzt konnte er trinken: Tania Nikolajewna hatte gelacht

      Viertes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Als Wera wieder allein war, löschte sie die Lampe, die auf dem Tische stand, so daß in dem großen Gemach nur in der heiligen Ecke ein Licht brannte; darauf setzte sie sich ans Fenster, drückte ihre Stirn gegen die kleinen, trüben Scheiben und starrte hinaus. Noch immer zogen die Leute der Kirche zu. Warum sie nicht? Der Gekreuzigte, der Begrabene, der Auferstandene ließ heute alle zu sich kommen. Warum kam sie nicht? Wie oft hatte sie sich diese Frage vorgelegt. Aber sie fand niemals eine Antwort. Und diese Sehnsucht in ihr! Wonach? Sich auch an ein Kreuz schlagen zu lassen. Wofür? Um des Leidens Rußlands willen. Und zu Ihm, der sich um des Leidens der Welt willen hatte ans Kreuz schlagen lassen, ging sie nicht, wenn die Osterglocken zum Grabe des Auferstandenen riefen? Hatte Christus denn die Welt erlöst?

      Es ist so lange her, dachte sie, daß Christus am Kreuz gestorben und nach drei Tagen wieder auferstanden ist von den Toten; es ist so viel darum gebetet und gedankt worden – beinahe zweitausend Jahre! Wenn einmal das russische Volk sein Osterfest hat, so wollen wir es feiern und dafür danken – auch zweitausend Jahre! Gekreuzigt wurde es ja oft genug, daß sein armer Leib nichts trägt, als blutige Wunden. Und ich selbst – – Herr, Herr, wecke mich! Ich bin wie in einem Grabe. Wenn ich meine Hände bewegen und ausstrecken könnte, müßte ich den Deckel meines Sarges fühlen. Aber ich kann mich nicht regen. Und wenn es über mir Frühling wird, weiß ich nichts davon. Wecke mich! Herr, Herr, wecke mich! Du kannst Wunder tun. Tue an mir ein Wunder! Rühre mich an und sprich: Weib, steh' auf und wandle – lebe!

      Sie fiel mit dem Kopf gegen die Wand und während aus der Kirche der Gesang der Gläubigen zu ihr herüberdrang, betete sie, daß ihre Seele geweckt werde, daß die Seele des russischen Volkes auferstehen möchte aus tausendjährigem Todesschlaf.

      ... Wera Iwanowna war das einzige Kind ihrer Eltern. Ihre verstorbene Mutter hatte in ihrer Jugend in dem Rufe gestanden, eine große Schönheit zu sein. Diese Frau kam mit ihrem zwölften Jahre auf den Hof, wo sie zuerst für die niedrigsten Küchenarbeiten verwendet wurde, aber schnell bis zur Zofe der Herrin avancierte. Von dieser ward sie bald gestoßen und geschlagen, bald mit Zuckerwerk gefüttert und mit Putzsachen beschenkt. Im Winter wurde sie mit nach Moskau genommen. Plötzlich fiel sie bei der Herrin in Ungnade und ward in aller Eile mit Iwan Iwanowitsch, einem berüchtigten Trunkenbold auf dem Steppengut Eskowo verheiratet. Der Mann der hübschen Person war ein Mensch, der infolge seines Lasters zu nichts anderem zu verwenden war, als zum Knuten, ein Geschäft, dem er sich mit ganzer Seele und beiden Fäusten hingab. Bereits nach einigen Monaten wurde Wera geboren und ihre Geburt kostete der schönen Mutter das Leben. Das Kind wäre elend umgekommen, hätte nicht eine Nachbarin Erbarmen gefühlt. Der Mann dieser mitleidigen Frau arbeitete wegen Auflehnung gegen den Verwalter bereits seit fünf Jahren in den Bergwerken: er hatte nur einen Sohn zurückgelassen, ein starkes, plumpes unschönes Kind, das sich vor anderen Kindern scheute niemals spielte und am liebsten einsam in irgendeinem Winkel hockte.

      Kaum war das kleine Mädchen im Hause, so ging mit dem Knaben eine wunderliche Veränderung vor. Er erwachte aus seiner Stumpfheit, es kam Leben und Jugend in ihn. Wenn das fremde Kind schrie, geriet er ganz außer sich, gab sich nicht eher zufrieden, als bis es beruhigt war. Unaufhörlich plagte er seine Mutter mit der Kleinen; alles, was sie zu essen hatten – es war wenig genug – sollte das Mädchen bekommen. Daß seine Mutter den Säugling nicht mit Stör und Kwas, den beiden größten Leckerbissen, die die Welt für ihn besaß, auffütterte, verzieh er ihr nicht. Den ganzen Tag schleppte er sich mit dem Püppchen herum, glücklich, wenn es mit den winzigen Händchen nach ihm griff und ihn an seinem struppigen Haar zerrte. Als die Kleine ihn zum erstenmal anlachte, geriet er in Ekstase. Diese leidenschaftliche Zärtlichkeit nahm mit den Jahren womöglich noch zu. Im übrigen blieb er ein scheuer, verdrossener, träger Junge, durch dessen Gehirn die Gedanken wie Schnecken krochen. Zündete jedoch einmal etwas in ihm, so loderten gleich Flammen.

      Da vom Lernen gar nicht, von Arbeit kaum die Rede war, so lebte Sascha mehr auf der Steppe als im Dorfe oder im Hause; und da es ohne Wera keinen Sascha gab, so trieb sich das Mädchen