Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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dem das Reden schwer fiel. Das nämliche war bei Sascha der Fall; aber sobald sich dieser mit seiner kleinen Genossin allein befand, ward er wunderbar beredt. Er wußte Geschichtchen ohne Zahl und Ende, die niemand ihm erzählt hatte. Wenn die beiden über Wiesen liefen und den Birkenwald durchstreiften, so erfuhr Wera allerlei geheimnisvolle Dinge von wilden Wasserweibern und weisen Luftfrauen. Der Knabe entfaltete vor der Seele des Mädchens den ganzen Reichtum seiner Phantasie, jedoch ohne sie dadurch ihrer nachdenklichen Art entreißen zu können. Oft kauerten sie am Rande des Flusses, der im Frühling die Steppe mit braunen Fluten überschwemmte, stumm zuschauend, wie die schlammige Wassermasse sich schwerfällig und träge in unheimlicher Lautlosigkeit dahinwälzte. Oder sie lagen auf der Steppe mit geschlossenen Augen, lauschten auf den Schlag der Amsel und das Pfeifen des Wasserhuhns und ließen das hohe Gras über sich hinwehen. Die grüne, blumendurchzogene Welle schlug über ihren jungen Gesichtern zusammen; öffneten sie die Augen, so blickten sie durch die nickenden Halme und Knospen in ein Meer von Dunst und Glanz, das der Sonnenuntergang mit glühendem Purpur übergoß, darin nach und nach die Sterne aufblinkten. Die einförmigste und ödeste Natur besitzt des Phantastischen und Geheimnisvollen immer noch genug, um ein Kindergemüt mit Schauern zu erfüllen.

      So kam es, daß Wera ein überaus seltsames Kind ward. Gleich ihrem lieben Sascha wußte sie nichts von Spiel und anderen Kinderfreuden; die hübschen Märchen, die ihr Gefährte für sie erdichtete, verstand sie nicht, wenn sie auch noch so lange darüber nachgrübelte. Denn ganz im Gegensatz zu ihrem Freunde, konnte sie nicht fabulieren. Für sie blieb die Blume eine Blume, der Baum ein Baum. Sie hatte gar keine Einbildungskraft, sondern wußte nur mit der Wirklichkeit der Dinge etwas anzufangen.

      Einen Gegenstand beständigen Nachdenkens bildete für sie die Frage: weshalb in Eskowo die Kinder stets so schmutzig und zerlumpt einhergingen? Da die meisten Mütter hatten, so konnte Wera es nicht ausfindig machen und verfiel darüber in tiefe Traurigkeit. Gar zu gern hätte sie etwas getan – irgend etwas! Zum Beispiel gehungert oder sich schlagen lassen, wenn dadurch in Eskowo alle Kinder gewaschen und reinlich gekleidet worden wären. Sie machte mit Sascha aus: wenn sie beide erst »ganz« groß geworden, so wollten sie dafür sorgen, daß es in Rußland nur sauber gewaschene und reinlich angezogene Kinder gäbe. Auch sollte dann niemand mehr die Knute bekommen, niemand mehr betrunken sein, oder in die Bergwerke geschickt werden, wo Saschas Vater unterdessen gestorben war.

      Daß es auf der Welt – das heißt in Eskowo – Prügel und Trunkenheit gab, verursachte beiden viel Herzeleid. Vergebens versuchten sie zu begreifen, warum zweierlei Menschen da seien: Solche, die schlagen ließen, und solche, die geschlagen wurden. Gott und die Heiligen waren ihnen nebst der Gutsherrschaft, dem Verwalter und dem Popen ziemlich gleich unbekannte und schreckliche Persönlichkeiten. Da im Dorfe keiner so schmierig einherging, keiner so oft betrunken war wie der Pope, so setzten sie dasselbe von Gott und den Heiligen voraus, welche göttlichen Eigenschaften der kleinen Wera den größten Kummer bereiteten. Von dem Herrn, der Herrin und dem Verwalter wußten sie, daß diese – gerade wie Gott und die Heiligen – alles vermochten, und daß durch sie die Knute in die Welt gekommen. Freilich forderte Wera ihren Kameraden auf; wenn er erst »ganz« groß geworden, sich nicht von dem Verwalter schlagen zu lassen, wie die anderen das taten.

      Häufig kam es vor, daß Wera zusah, wenn ihr Vater prügelte. Sie lief dann nicht fort, sondern wohnte der Prozedur bei, leichenblaß, die kleinen Hände geballt, mit weit aufgerissenen, starren Augen. Bei jedem Schlage zuckte sie zusammen, als wäre sie getroffen worden. Mancher dieser Mißhandelten, dem das Bewußtsein geschwunden, fand beim Erwachen aus seiner Betäubung neben sich die kleine Wera kauern.

      Sie war vierzehn Jahre alt, als die Gutsherrin starb. Iwan Iwanowitsch und seine Tochter hatten bei dieser Dame so tief in Ungnade gestanden, daß sie selbst zum Handkuß nicht vorgelassen wurden. Das änderte sich nun. Kaum war die Dame begraben, als nach Wera geschickt wurde. Eine Dienerin holte sie ab und brachte sie zu der Frau des Verwalters, die das Kind bis dahin niemals zu sehen bekommen hatte. Es war eine ältliche, fette, faule Dame, die sich altrussisch kleidete und den ganzen Tag über Eingemachtes aß, das sie meisterlich zu bereiten verstand. Sie bewohnte einen Divan mit eingesunkenen Polstern und zerrissenem Überzug, aber so behaglich aufgewärmt, daß sie sich nur dann von den Kissen erhob, wenn sie Honigfrüchte einkochen ließ. Diese bequeme, vortreffliche Seele überschüttete Wera mit Liebkosungen und Leckerbissen, ließ sie in ihrer Gegenwart auf das zierlichste ankleiden und führte sie dann in eigener Person zu Anna Pawlowna.

      Die junge Herrin von Eskowo empfing die kleine Vasallin ziemlich gnädig. Sie trug ein Pariser Trauerkostüm, darin sie reizend aussah. Ihr ganzer Hofstaat umgab sie: Beau, das Bologneser Hündchen, Bella, die große Tigerkatze, Karo, der gelbschopfige Kakadu. Außer diesen Günstlingen, zu denen man noch die Zwergin rechnen konnte, befanden sich von menschlichen Zugehörigen in dem Gemache: Madame Henri, die Gouvernante, Herr Lehmann, der deutsche Tanzmeister, und Lisaweta, die alte Amme. Auf einer mit maisgelbem Atlas bezogenen Ottomane lag ein wunderschöner Knabe, der Vetter Anna Pawlownas, der kaum älter als Wera war. Boris Alexeiwitsch war ganz in schwarzen Samt gekleidet, hatte weiche, kastanienbraune Locken, dunkle, müde Augen, eine Gesichtsfarbe und Lippen wie ein Mädchen. Er unterhielt sich damit, über dem Kopf des Kakadu die Reitpeitsche sausen zu lassen, schien jedoch an dem Spiel kein besonderes Vergnügen zu finden.

      Wera fand die Situation sehr tumultuarisch. Der Hund bellte, der Kakadu schrie, die Zwergin kreischte, die Gouvernante zankte mit der Amme (die eine sprach Französisch, die andere Russisch), Boris pfiff und der deutsche Tanzmeister machte einen falschen Pas, wobei er der Katze auf den Schwanz trat. Jetzt kam noch die Verwalterin dazu.

      Anna Pawlowna ließ die fette Dame sprechen, wie sie den Vogel kreischen ließ, betrachtete gemächlich ihren Besuch von Kopf bis zu den Füßen, befahl alsdann Räucherwerk anzuzünden, den Samowar aufzustellen und Wera ihren Schmuck und ihre Kleider zu zeigen.

      Plötzlich trat im Jagdanzug, Paul Gregorowitsch ein, er küßte seine Tochter auf die Stirn, nickte der Amme zu, reichte dem Kakadu ein Stück Biskuit, machte Miene, die Französin anzureden, sah über den Tanzmeister hinweg und fragte die Zwergin – es war Mittwoch – ob heute Samstag wäre?

      Dann sah er Wera.

      Auf diesen Augenblick hatte die Verwalterin nur gewartet. Unter Verbeugungen, die sie ächzen und stöhnen machten, trat sie vor und begann über die Tochter des Trunkenbolds eine biographische Skizze herzusagen. Aber Paul Gregorowitsch runzelte ungnädig die Stirn, was die Verwalterin so aus der Fassung brachte, daß sie mitten im Satz verstummte.

      Bald darauf ging er.

      »Welche Ähnlichkeit!« zischelte die Zwergin der Amme zu. Diese stieß einen tiefen Seufzer aus und verdrehte die Augen.

      Wera wollte weder Tee trinken noch von den eingesottenen Früchten essen, trotzdem Anna Pawlowna selbst sie ihr reichte.

      »Wie stolz das Täubchen ist,« zeterte die Zwergin.

      »Wie frech!« rief Boris Alexeiwitsch, stand auf, schlenderte zu Wera hin, blieb dicht vor ihr stehen, fixierte sie eine Weile, hob dann die Reitpeitsche und schlug zu.

      Über Weras weißes Gesicht zog sich ein blutroter Streifen. Die Zwergin lachte laut auf, die anderen sagten nichts, nur der deutsche Tanzmeister murmelte: »Pfui!«

      Aber wie eine Megäre fuhr Anna Pawlowna auf ihren Vetter los, dann fiel sie Wera um den Hals und küßte sie auf die Wange, welche die Peitsche getroffen. Sogleich begann die Zwergin zu schluchzen.

      Wera ertrug die Liebkosung, wie sie die Mißhandlung ertragen; vollkommen regungslos. Dabei wandte sie keinen Blick von Boris. Dieser junge Held hatte sich unterdessen als zweites Opfer den armen Deutschen erwählt, von dem er sich, ohne überhaupt nur hinzusehen, bald diesen, bald jenen Tanzschritt vormachen ließ, dazu mit der Reitpeitsche Knalleffekte ausführend, welche die Französin bewundern mußte. Wera war, nachdem sie sein momentanes Mißfallen erregt hatte, für ihn gar nicht mehr vorhanden.

      Endlich durfte die Verwalterin das Mädchen wieder mit sich hinausnehmen. Kaum befand sich die würdige Dame außer Hörweite, als sie auf Wera losfuhr und sie mit Vorwürfen überhäufte, wie man sich so dumm und grob benehmen könnte. Wäre sie so klug gewesen, sich respektvoll