Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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ist, daß, sobald diese einen allgemeineren Charakter annehmen würden, sie unausbleiblich eine völlige Entartung nach sich ziehen müßten.

      Der Tag brach an, als wir uns trennten. Ich kehrte wieder auf mein Zimmer zurück, wo ich lange am Fenster stand und die Sonne hinter den Alpen aufsteigen sah. Ich zwang mich, nicht hinunter auf die Landstraße zu blicken, auf die ein Wanderer in das Tal einziehen mußte. Als ich mich endlich von der Morgensonnenglorie, die Gebirg und Tal umleuchtete, losreißen wollte, sah ich Axel aus dem Schlosse treten. Ich öffnete hastig das Fenster und rief hinunter, daß er auf mich warten möge, warf einen Mantel über und eilte hinab.

      Mit welchem strahlenden Antlitz er mich grüßte. Ich hatte gar nicht gewußt, daß er so schön sei.

      Wir gingen den Wiesenpfad, der zum Strom führte, und an diesem entlang dem Dorfe zu. Erst vor einigen Tagen war an den sonnigen Stellen der Schnee fortgeschmolzen; noch waren die Wiesen von einem fahlen Braun, aber schon sah man darunter das neue Leben in tausend Knospen und Trieben freudig sich regen. Unter dem Strauchwerk am Fluß blühte bereits der schöne Seidenbast und hinter den Hecken wagten sich schon kecke Anemonen und Primeln hervor. In einigen Tagen würden die Fluren leuchten von Blüten. Es war ein so früher Frühling, wie einen ähnlichen erlebt zu haben sich die ältesten Leute nicht erinnern konnten.

      Ich mußte denken: wie es auch in dem Herzen des Mannes, der an meiner Seite schritt, gleichfalls über Nacht, plötzlich Frühling geworden.

      Neben uns tobte und rauschte der wilde Fluß.

      In tiefem Schweigen schritten wir dahin. Es war noch so früh am Morgen, daß uns kein Mensch begegnete. Als das Dorf vor uns lag, bogen wir wie auf stillschweigende Verabredung in einen Fußweg ein, der uns um das Dorf herum und an den Felswänden dahin in den Pfarrgarten führte. In demselben fanden wir Veronika, einen Strauß Schneeglöckchen und Krokus pflückend. Sie warf einen großen, erstaunten Blick auf mich, grüßte stumm und fremd und ging sogleich ins Haus. Der Anblick des blassen, unglücklichen Mädchens machte uns beide schwermütig und nachdenklich.

      Nach einigen Augenblicken trat Pfarrer Andreas zu uns.

      »Veronika sagte mir soeben, daß ein Brautpaar im Garten stehe, und nun – –«

      Er verstummte, blickte von einem zum anderen, streckte dann beide Hände nach uns aus.

      »Endlich, endlich! Wie lange habe ich darauf gewartet! Seid gegrüßt! seid gesegnet!«

      Darauf sagten wir ihm alles, wobei wir in dem kleinen Garten auf und ab gingen, den Freund in unserer Mitte. Schweigend hörte er uns zu.

      »Als Priester darf ich euch nicht recht geben; aber als Mensch kann ich euch verstehen.«

      Er schwieg eine lange Weile, in tiefes Sinnen verloren. Dann erhob er sein Haupt. Mit einem Antlitz, darin die stärkste Menschenliebe aufleuchtete, ergriff er unsere Hände, legte sie ineinander und sprach feierlich: »Ich sage es euch noch einmal: Seid gesegnet!«

      So wurden wir vermählt.

      Achtzehntes Kapitel

       Frühlingsfluten

       Inhaltsverzeichnis

      Sonnige Tage folgten. Mein lieber Gatte genießt sein schwer erkämpftes Glück wie ein Jüngling: jeden Tag entdecke ich ein neues Talent in ihm, unser Leben festlich zu machen. Die Wochen vergehen in einer Reihe von Feiertagen. Wer hätte auch denken können, daß der ernste Mann so aus vollem Herzen zu lachen versteht! Oft ist er übermütig wie ein Knabe, von einer heiteren Sorglosigkeit, von einer Daseinslust und Lebensfrohheit, die unwiderstehlich ist. Noch immer behauptet der närrische Mann, es ›nicht begreifen‹ zu können; noch immer staunt er mich und sich selbst wie zwei Traumgestalten an. Wenn ich des Abends, für ihn geschmückt, in sein Zimmer trete, muß ich mir gefallen lassen, jedesmal wie eine Erscheinung angestarrt zu werden. Endlich lache ich laut auf. Er aber sitzt da, still und stumm, mit ernstem Geficht und schüttelt den Kopf. Dann muß ich diesen natürlich mit beiden Händen fassen; ja dieses liebe, wunderliche Haupt ruht nicht eher, als bis ich seine Stirn für ihren Eigensinn durch Küsse bestraft. ,

      So treiben wir es, wie große Kinder, die sich auch nicht allzuviel Gedanken machen. Doch können wir auch ernsthaft sein. Zum Beispiel: etwas tun, anstatt zu spielen. Und es gibt viel zu tun: es gibt viel Arbeit! Einige Beamten müssen gewechselt, neue Arbeiter gedingt werden. Man weiß nicht wo zuerst anfangen, denn überall scheint gleiche Not zu sein. Der Wind hat schrecklich gehaust. Die jungen Bäume sind entweder von den Schneemassen erdrückt oder vom Wild abgenagt worden. Die Wiesen stehen unter Wasser. Aber wie sind uns die Kräfte gewachsen, von welcher Tatkraft sind wir beseelt, wie fällt uns jetzt selbst das Schwerste so leicht!

      Welche wunderbaren Heilmittel erschließt doch das Leben allüberall seinen Leidenden, Man muß schließlich gesund werden, mag man wollen oder nicht.

      Eine große Sorge sind für uns die Dammarbeiten am Strom. Dieser ist bereits jetzt ungewöhnlich wild und eine noch größere Zunahme der Wassermassen steht zu befürchten. Dieser Winter hat im Gebirge einen ganz unerhörten Schneefall gebracht und erst wenig ist davon geschmolzen. Unaufhörlich gehen mächtige Lawinen ins Tal, deren Donner rings in der Runde widerhallt. Von allen Seiten rauschen Wasserfälle und kleine Wildbäche hernieder. Das schon mehreremal von den Fluten halb weggerissene Dorf hat noch immer nicht genug Lehrgeld gezahlt. Auch dieses Mal regt man sich nur widerwillig, um Vorkehrungen gegen das drohende Unheil zu treffen. Nur ungenügende Notwälle schützen das Dorf. Schwache Balkenbrücken, die unter dem Fuß des Hinüberschreitenden schwanken, führen von einem Ufer zum andern. Unser wackerer Freund predigt in der halbleeren Kirche gegen eine solche an Stumpfsinn grenzende Gleichgültigkeit. Er geht selbst von Haus zu Haus und bietet die Männer auf, Hand anzulegen. Sein Eifer bleibt auch nicht ohne Wirkung, aber er ist seiner Gemeinde bereits so fremd geworden, daß man seine lautersten Absichten beargwöhnt und verdächtigt. Was man sonst aus vernünftigem Einsehen gewiß getan, unterläßt man jetzt aus Trotz und Haß. Umsonst bieten wir unsere eigenen Arbeiter an; kaum daß wir in Gemeinschaft mit dem Pfarrer erreichen können, wieder aufzurichten und zu verbessern, was der Winter zerstört hatte.

      Vor einigen Tagen teilte ich unserer alten, getreuen Luise unsere Verbindung mit. Sie lebt in einem kleinen, deutschen Städtchen in einem Kultus des Andenkens an meine Mutter und mich. Ihr Jammer um mich soll herzzerreißend gewesen sein. Monatelang hatte Fernow sie nicht bewegen können, den Ort, wo sich das ›Rollahaus‹ befand, zu verlassen. Daß man sie nicht zu mir lassen wollte, war ein Schmerz, den sie nie überwand. Mein lieber Gatte war ganz ergriffen, wenn er von ihr erzählte. Sie drohte, irgend etwas Gewaltsames zu tun, womöglich die Mauer zu übersteigen, um mich einmal am Fenster zu sehen, als er sie endlich nach langen Kämpfen glücklich fortgeschafft, bekam er doch nicht Ruhe vor ihr. Wöchentlich liefen ihre Postsendungen ein: Briefe von unglaublichem Format, auf deren weißem, blauem, grauem Grund mit zollgroßen Buchstaben, welche die merkwürdige Eigenschaft hatten, nach allen Richtungen hin auseinanderzugehen und alle Augenblicke unter Tränen und Tintenklecksen zu verschwinden, ihrer ›geliebten, einzigen, angebeteten Rolla‹ ewige Treue und Liebe versichert wurde. Atemlos, niemals dem Leser durch ein Komma eine kleine Ruhepause gönnend, jagten die Worte dahin, von Anfang bis zu Ende nur ein einziger Satz: eine einzige Versicherung. Dann und wann wurden diese leidenschaftlichen Ergüsse von Paranthesen unterbrochen, in deren Umklammerung Luise geheimnisvolle, düstere Drohungen ausstieß und die schwärzesten Weltanschauungen entwickelte, die, schließlich in atheistische Ausrufungen ausartend, das ganze Menschengeschlecht in Bann taten. Nach meiner Heilung wurden Fernows Anstrengungen, sie noch eine Zeitlang von mir entfernt zu halten, immer schwieriger. Er mußte sie wie ein Kind behandeln, dem man eine große Zuckertüte verspricht, damit es brav sei. Nun durfte ich ihr zum erstenmal schreiben und ihr zugleich mitteilen, daß ihre Belohnung da sei: daß sie kommen dürfe, um nie wieder fortzugehen. Die Antwort, die ich erhielt, legte ich zu dem letzten Brief meiner Mutter. Wir erwarten sie, sobald das Joch passierbar ist. Das kann jedoch noch einen Monat dauern.

      Heute erfuhr ich zum erstenmal etwas von der großen Weltkomödie,