Und jetzt brachen über das Gemüt Glöckleins tausend Ängste und Befürchtungen herein. Denn: ›Sie hält es hier nicht aus. Nein, nein! Es ist etwas in ihr; wohl von ihrer Mutter her, die immerhin ein Modell gewesen war. Das soll so sein in der Welt. (Mit einem scheuen Blick auf das Porträt Seiner Höchstseligen Hoheit.) Und dann kann sie eben nichts dafür. Wäre ich nur größer, ich wollte ihr schon helfen. Aber so kann ich nichts für sie tun, rein gar nichts! Es ist wirklich sehr ungerecht, daß ich so klein bin.‹
Und das sagte sie Seiner Hoheit so paff ins Gesicht hinein. Im nächsten Augenblick bereits erstarrte sie schier vor Schreck über solchen völligen Mangel an schuldiger Devotion. Beinah wäre sie aufgesprungen, hätte sich kerzengerade hingestellt und mit ihrem perfektesten Hofknicks Seine Hoheit untertänigst um Verzeihung gebeten. Aber der Durchlauchtigste Herr lächelte so harmlos huldreich auf sie herab, als könnte Hochderselbe sich absolut nicht erinnern, irgendwie an dieser Miniaturfigur schuld zu sein.
Dann erschallte ein helles Klingelchen, das sich entschieden die Stimme des Glöckleins zum Vorbild genommen hatte, und Gismonda huschte hinaus, um ihrer lieben Langen die Pforte der Solitude zu öffnen.
Die beiden Damen saßen beim Tee. Nachdem Regenmantel und Kapuze abgeworfen, erschien Prisca in ihrer ganzen germanischen Eckigkeit, dafür aber auch in dem vollen Schmuck ihres hellen, prachtvollen Haares. Sie trug es in starken Zöpfen einfach um den Kopf gewunden, was ihr das Aussehen einer Achtzehnjährigen gab.
»Und dein Bild ist noch immer nicht verkauft?« klagte das Glöcklein. »Was wollen die Menschen denn eigentlich? Ich kann mir nur denken, daß den Leuten dein Bild zu klein ist. Male doch nur um Himmels willen große Bilder. Du kannst es ja. Du kannst alles.«
»Wie schade, daß deine Hoheiten nicht mehr am Leben sind, die hätten mir sicher meine Riesenbilder samt und sonders abgekauft. Ich habe eben meine rechte Zeit verpatzt.«
Prisca sprach wie von tiefster Überzeugung durchdrungen. Sie wußte, daß sie ihrer kleinen Freundin kein größeres Vergnügen bereiten konnte, als wenn sie deren Höchstselige Hoheiten als die wahren Mediceer hinstellte. Ein leiser, zweifelnder Seufzer Gismondas sollte der zuversichtlichen Behauptung der jungen Künstlerin bescheidentlich widersprechen. Aber Prisca wiederholte ihre Meinung mit solchem Nachdruck, daß des Glöckleins Gemüt von Gewissensbissen gepackt ward, sie hätte dem heiligen Gedächtnis ihrer Herrschaften ein himmelschreiendes Unrecht zugefügt, und mit Seiner Hoheit wäre ein erhabener Beschützer der Künste dahingegangen! Und von wem sollte sie selbst dieses erstaunliche Verständnis für Kunst empfangen haben? Etwa von ihrem Vater, dem Hoflakaien?
In glückseliger Verschämtheit über dieses neue, bedeutsame Argument stippte sie ihren Zwieback in den Tee, nicht wagend aufzusehen, um nicht dem Blick Seiner Hoheit zu begegnen.
Prisca unterbrach das feierliche Schweigen, indem sie mit ihrer sonnenhellen Stimme lustig sagte:
»Übrigens komme ich auch ohne deine Hoheiten durch die Welt. Freilich nicht ganz so leicht und, bequem. Große Bilder! Du triffst eben immer das rechte. Ich muß große Bilder malen. Wenn ich damit durchkomme – und ich komme durch! –, so habe ich das auf Gottes weiter Erde keiner Menschenseele zu danken als dir, du liebes, feines, silberhelles Glöcklein. Aber um solche riesigen Sachen überhaupt machen zu können, muß ich einen großen Raum haben; zum mindesten noch einmal so groß, als unsre ganze herrliche Solitude ist. Das wird meine weise Hofdame doch wohl einsehen?«
»Noch einmal so groß? Aber Prisca! Ein solches Atelier gibt es ja gar nicht.«
»In München schwerlich. Hier ist alles winzig. In Italien gibt es die vielen alten Paläste. Manche sollen ganz leer stehen, sollen verfallen, ohne daß man sich darum kümmert. In einem oder dem andern fände ein Sonntagskind vielleicht billige Unterkunft. Da könnte ich dann malen.«
»O Prisca!«
»Nun ja, liebes Glöcklein. Ich war heute auf dem Zentralbahnhof und erkundigte mich dort wegen eines Billetts nach Rom. Denke dir, es kostet nur siebenundfünfzig Mark! Der Mann fragte, ob ich kein Rundreisebillett nehmen wollte? Es käme bedeutend billiger und gälte zwei volle Monate. Ein Rundreisebillett, süßes Glöcklein! Und nach zwei Monaten in Rom wieder nach München zurück!«
So war es denn glücklich heraus ... Aber es dauerte eine gute Weile, bis Gismonda begriffen hatte, daß sie ihre liebe Prisca in kurzer Zeit und für lange verlieren sollte. Je weniger sie klagte, um so mehr griff es Prisca ans Herz. Diese ganze Woche hindurch sah sich die nach einem Ersatz für das treulose Pflegekind der Solitude um; und schließlich fand sie auch einen solchen. Es war eine junge Dame der höheren Stände, welche die Vorzüge des Schwabinger Lustschlosses nach Gebühr zu schätzen wußte; obenein Künstlerin und nach Menschenmöglichkeit hoch aufgeschossen. Aber das Glöcklein mochte von keinem Ersatz für ihre liebe Prisca hören. Ihr Kämmerchen sollte leer stehen bleiben, und die kleine Dame wollte zu ihren zehn Pfund Rindfleisch pro Monat zurückkehren: hatte sie doch dazu die Menüs von der herzoglichen Hoftafel aufliegen.
»Es mußte wohl einmal so kommen,« meinte das arme Geschöpf weinerlich. »Wenn es nur nicht Italien wäre! Das Land mag ja wohl angehen. Aber die Leute dort. Wenn du das Land mit all seinen Apfelsinen- und Zitronenbäumen auch noch so schön abmalst, mit den Leuten wirst du dein blaues Wunder erleben. Unter uns gesagt: ich begreife Bismarck nicht. Er weiß doch ganz gut, daß es alle Deutschen immerfort nach Rom zieht und daß sie dort von diesen abscheulichen Italienern rein ausgeplündert werden. Warum hat der Mann denn aus Italien nicht eine deutsche Provinz gemacht? Er hätte es ja doch gekonnt, wenn er nur gewollt hätte; geradeso, wie du alles kannst, was du willst.«
*
Die Vorbereitungen zur Reise wurden begonnen. War das auf der einen Seite eine Glückseligkeit! Prisca verglich sich mit einer Braut, die an ihrer Aussteuer näht. Seit sieben Jahren hatte sie gesammelt und gespart. Nun sollte sie ihren ganzen Schatz ausgeben dürfen, um dafür einen ganz andern Reichtum einzuheimsen: Lebensglück.
Da war vor allem ihre kleine Reisebibliothek: Heyses »Italienische Novellen«, Gregorovius' »Römische Figuren«, Ullmers' »Schlendertage«, Viktor Hehn, Hermann Grimm und Jakob Burkhardt. Prisca hatte alle diese Bücher gelesen und immer wieder gelesen; und wenn sie davon sprach, schlug sie ihre prachtvollen Augen mit einem leuchtenden Blick auf, der ihr ganzes Gesicht verklärte. In diesen Winterabenden mußte sich Gismonda zum dritten oder vierten Male Goethes »Italienische Reise« vorlesen lassen. Aber je begeisterter darin die Grazie des Volkes gepriesen ward, um so mißmutiger bezeigte sich das Glöcklein.
»Das ist es ja eben! Die Grazie ist es! Ach, meine liebe Lange, die Grazie ist der Teufel, der in diesem Volke steckt. Gott behüte deine arme, reine Seele vor diesem Satan!«
Prisca meinte lachend:
»An mich ungelenkes, eckiges deutsches Ding macht sich der Versucher gar nicht heran. Wer von allen Grazien verlassen ist, auf den hat der leibhaftige Gottseibeiuns, der dort drüben sein Wesen treiben soll, überhaupt keine Absichten.«
Aber mit der Miene einer Sibylle antwortete das Glöcklein:
»Gerade darum.«
Prisca baute Luftschlösser und entführte dabei ihre Freundin von der Isar hinweg an den Tiberstrand.
»Wenn mein erstes großes Bild gemalt und glücklich verkauft ist – ich verkaufe es selbstverständlich sofort, so komme ich umgehend und hole dich herüber: mit dem Eilzug in der zweiten Klasse! Dann gründen wir vor der Porta del Popolo eine römische Solitude. Darin hausen wir beide – mit deinen sämtlichen Hoheiten natürlich.
Gismondas matte Augen bekamen einen feuchten Schimmer; ein leuchtendes Lächeln huschte über das welke Gesicht:
»Ach ja, Prisca. Mit meinen Hoheiten in dem großen, ewigen Rom! Aber,« so setzte sie kleinmütig hinzu, »es geht doch wohl nicht. Denn was sollten die hiesigen Münchner Herrschaften